In einem alten Witz aus der untergegangenen DDR wird einem Mann Arbeit in Sibirien zugewiesen. Da er weiß, dass jeder Brief durch die Zensur muss, sagt er seinem Freund: »Wir vereinbaren einen Kode: Bekommst du von mir einen Brief in blauer Tinte, so ist er wahr; schreibe ich aber mit roter Tinte, ist er erlogen.« Einen Monat später erreicht der erste Brief den Freund, in blauer Tinte: »Alles hier ist wunderbar: Die Läden sind gefüllt, Essen gibt es im Überfluss, die Wohnungen sind geräumig und gut geheizt, in den Kinos zeigt man Filme aus dem Westen, eine Menge hübscher Mädchen wartet auf eine Affäre - das Einzige, was man nicht kriegen kann, ist rote Tinte.«
Und ist es nicht heute noch genauso? Wir haben alle erdenklichen Freiheiten, die man sich nur wünschen kann – das Einzige, was fehlt, ist »rote Tinte«: Wir »fühlen uns frei«, weil uns allein schon die Sprache fehlt, unsere Unfreiheit auszudrücken. Das Fehlen der roten Tinte bedeutet heute, dass alle zentralen Begriffe, mit denen wir den gegenwärtigen Konflikt bezeichnen – »Krieg gegen den Terror«, »Demokratie und Freiheit«, »Menschenrechte« und so fort – irreführende Begriffe sind, die unsere Wahrnehmung der Situation mystifizieren, statt uns zu erlauben, sie zu durchdenken. Unsere Aufgabe besteht heute darin, den Protestierenden rote Tinte zu geben.
Slavoj Žižek, Treffen sich zwei Hegelianer ...