In Zeiten des romantischen Liebesideals, in der die Liebe zwischen den Liebenden allein - und nicht die schicklichen, zweckhaften oder sonst wie naheliegenden Allianzen zwischen den Familien der Partner - den Bund fürs Leben begründen soll, ist Bindung deshalb eine so riskante Angelegenheit, weil die beiden Partner nicht voneinander wissen können, welche Frustrationstoleranzen die Liebe für den jeweils anderen beinhaltet. Wenn die Sexualüberschätzung aus dem irren Zustand der Verliebtheit nachlässt, müssen sich die Partner notgedrungen auf eine emotionale Idee langer Dauer für ihre Partnerschaft einigen. Dazu dienen für gewöhnlich Erzählungen des Kennenlernens, der Überwindung von Beziehungskrisen, von gemeinsamen Urlaubs- oder Immobilienerwerbsprojekten und vor allem die unendlichen, von Fotosammlungen gestützten Erzählungen aus der kooperativen Kinderaufzucht.
Da der Partner, auch wenn man sich keinen anderen vorstellen kann, immer der Andere bleibt, in dem ein Fremder steckt, dessen trübe Gedanken, geheime Wünsche und bizarre Fantasien einem verborgen bleiben, muss man unentwegt auf der Hut sein. Eine fixe Idee im Kopf des Anderen kann mit einem Mal alles zur Disposition stellen. Die Beziehung der Liebe beruhe so gesehen auf der Angst vor der Freiheit. So wie das Ich hat das Du die Freiheit, aus nichtigem Anlass oder tiefer Enttäuschung, Nein zu sagen und sich dadurch seine Freiheit zu nehmen und den Anderen allein zu lassen. »Wir haben uns voneinander entfremdet«, lautet die ebenso hilflose wie treffende Formel der Trennung.
Heinz Bude, Gesellschaft der Angst. Hamburger Edition 2014