Wir nennen etwas »Phantasievorstellung« statt »Dichtung« oder »Philosophie«, wenn es um Metaphern kreist, die bei anderen Leuten nicht auf fruchtbaren Boden fallen, also Weisen des Sprechens oder Handelns, für die wir anderen keine Verwendung haben. Freud zeigt uns aber, wie etwas, das der Gesellschaft sinnlos, lächerlich oder abscheulich vorkommt, doch von entscheidender Bedeutung sein kann für das Selbstverständnis einer Einzelperson, vielleicht ihre Weise ist, zu verstehen, woher die zufallsblinde Prägung stammt, die sich in allem zeigt, was sie tut. Umgekehrt sprechen wir von Genie statt von Exzentrizität oder Perversität, wenn eine private Zwangsvorstellung eine Metapher hervorbringt, für die wir Verwendung haben. Der Unterschied zwischen Genie und Phantasie ist nicht der Unterschied zwischen Prägungen, die eine Verbindung zu etwas Universellem, einer vorgängigen Realität dort draußen in der Welt oder tief im Inneren des Selbst herstellen, und anderen, denen das nicht gelingt. Es ist vielmehr der Unterschied zwischen Idiosynkrasien, die zufällig bei anderen Menschen auf fruchtbaren Boden fallen - zufällig wegen der Kontingenzen einer historischen Situation, eines besonderen Bedürfnisses, das eine bestimmte Gemeinschaft zufällig zu einer bestimmten Zeit hat -, und anderen, die das nicht tun.
Kurz: Fortschritt in der Dichtung, Kunst, Philosophie, Wissenschaft oder Politik ergibt sich aus der zufälligen Koinzidenz einer privaten Zwangsvorstellung und eines weitverbreiteten Bedürfnisses. Starke Dichtung, die Moral des gesunden Menschenverstandes, revolutionäre Moral, normale Wissenschaft, revolutionäre Wissenschaft und Phantasie, die nur einer einzigen Person verständlich ist, sie alle sind in Freuds Sicht nur verschiedene Weisen, mit zufallsblinden Prägungen umzugehen - oder genauer, Weisen, mit verschiedenen zufallsblinden Prägungen umzugehen; diese Prägungen können Unikate sein, nur bei einem Individuum auftreten, oder allen Mitgliedern einer bestimmten, historisch bedingten Gemeinschaft eigen sein. Keine dieser Umgangsweisen hat deshalb ein Privileg vor anderen, weil sie die menschliche Natur besser zum Ausdruck brächte. Keine ist menschlicher oder weniger menschlich als eine andere, sowenig, wie die Feder in genauerem Sinne ein Werkzeug ist als das Schlachtermesser oder die Orchideenkreuzung weniger eine Blume als die wilde Rose.
Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität