Die beiden Grundregeln der psychoanalytischen Kur, das Prinzip der freien Assoziation und der gleichschwebenden Aufmerksamkeit, bauen auf der Unverfügbarkeit der Sprache und des Sprechens auf. Gerade weil in der Kur das psychoanalytische Hören und Sprechen nicht die vorgebahnten Wege gehen muss, die die Erkenntnis immer neu dorthin zurückführt, von wo sie ausgegangen ist, sind neue Wege der Selbsterkenntnis und des Verständnisses für den Anderen möglich. Der offene Erwartungshorizont des Analytikers oder der Analytikerin und die Leere seiner oder ihrer eigenen Vorstellungswelt sind die Voraussetzungen dafür, dass die im Unbewussten fixierten, an die vergangenen Erfahrungen gebundenen Erwartungen überhaupt sichtbar oder spürbar werden. ... Die fixierten Erwartungen sind an vergangene Erfahrungen gebunden, mit der Folge, dass die Zukunft implizit als die Wiederholung des Vergangenen erlebt wird, so dass sie schon immer als vorbestimmt oder geschlossen erscheint. Mit der Unverfügbarkeit des psychoanalytischen Erkenntniswegs sind Zukunftsorientierung und Hoffnung auf Veränderung verknüpft. Psychoanalyse ersetzt die gebundenen durch offene Erwartungen. Das Paradox der psychoanalytischen Therapie, das oft genug in außerpsychoanalytischen Diskursen unverstanden bleibt, besteht gerade darin, dass einerseits die Unverfügbarkeit anerkannt wird, dass aber die Therapie diese Anerkennung zum Ausgangspunkt nimmt, um ... aus ihrer Erfahrung Möglichkeiten und Möglichkeitsräume im Sinne von D. W. Winnicott herauszuarbeiten. So bleibt die psychoanalytische Erfahrung nicht bei der Erkenntnis des Mangels stehen, ebenso wenig wie sie darauf ausgerichtet ist, ihn vollends zu beheben und Unbewusstheit endgültig aufzuheben. Aber sie arbeitet an und mit der Unverfügbarkeit. Sie löst Fixierungen auf, nicht um den autonomen, den von den – früher so genannten – »Restneurosen« befreiten Menschen zu schaffen, der sich selbst durchsichtig ist, sondern um die Spielräume des Erlebens und des Lebens zu vergrößern und damit Zukunft zu öffnen. Joachim Küchenhoff, Für Unverfügbares offen bleiben. PSYCHE 3/2021