Wer immer es mit kleinen Kindern zu tun hat, wird sich an Freuds Bemerkung erinnern, man möge doch die strahlende Intelligenz eines Vierjährigen mit der Stupidität der meisten Erwachsenen vergleichen. Seine Intention dabei war die Denunziation religiöser Erziehung - kein Einwand -, aber dass es nur darum gehe, ist - war - eine Illusion. Die Gesichter einigermaßen gewaltfrei aufwachsender Kinder heißen einfach die Welt in einer einen Erwachsenen verblüffenden Weise willkommen, obwohl die Kinder ja schon wissen, dass man sich in dieser Welt zum Beispiel ziemlich wehtun kann. Aber der Erwachsene, der sich an einem solchen Gesicht zu freuen versteht, weiß doch auch, dass wir alle - Eltern, Großeltern, Freunde, Verwandte, Unbekannte - gemeinsam daran arbeiten werden, das Strahlen in so einem Gesicht zum Erlöschen zu bringen, es auszuwischen und das Kind auf den Weg zu einem Erwachsenen zu bringen, der nicht unbedingt stupide sein muss, aber der es gründlich verlernt hat, die Welt als solche willkommen zu heißen. Aber so ist das eben mit dem Erwachsenwerden, und ein Erwachsener, der wie ein Kind in die Welt blickte, wäre kein reizender Anblick, sondern ein pathologischer Fall. Kurz, dieses Strahlen muss verschwinden, weil wir nicht anders können, als es zum Verschwinden zu bringen, weil es so ist, war und sein wird. Und auch, weil es so sein muss. Aber es ist ziemlich traurig - und schmerzlich, darüber nachzudenken.
Es ist, bei aller Einsicht in den Gang der Dinge, richtig, glaube ich, sich die Empfindung des Schmerzes auch über den notwendigen Gang der Dinge nicht abzugewöhnen. Dazu aber braucht es Kontakt zu jenen individuellen Bereichen, zur jenen eigenen biographischen Episoden, in denen man dann die Momente erkennt, in denen einem selbst dieses Strahlen aus dem Gesicht gewischt worden ist. Der Kontakt zur eigenen Biographie ist die Voraussetzung für Empathie und zum Sichselbst-Verstehen als Gattungswesen.
Jan Phillip Reemtsma, Wie weiter mit Sigmund Freud? Hamburger Edition 2008