Im neoliberalen Regime existiert eigentlich kein Proletariat, keine Arbeiterklasse, die vom Eigentümer der Produktionsmittel ausgebeutet würde. In der immateriellen Produktion besitzt jeder ohnehin sein Produktionsmittel selbst. Das neoliberale System ist kein Klassensystem im eigentlichen Sinne mehr. Es besteht nicht aus Klassen, die sich zueinander antagonistisch verhielten. Darin besteht gerade die Stabilität dieses Systems.
Die Unterscheidung von Proletariat und Bourgeoisie lässt sich heute nicht mehr aufrechterhalten. Der Proletarier ist wörtlich jemand, der als einzigen Besitz nur seine Kinder hat. Seine Selbstproduktion ist auf die biologische Reproduktion beschränkt. Heute wird dagegen die Illusion verbreitet, jeder sei als ein sich frei entwerfendes Projekt zu einer grenzenlosen Selbstproduktion fähig. Strukturell unmöglich ist heute die »Diktatur des Proletariats«. Heute sind alle von einer Diktatur des Kapitals beherrscht.
Das neoliberale Regime verwandelt die Fremdausbeutung in die Selbstausbeutung, von der alle ›Klassen‹ betroffen sind. Diese klassenlose Selbstausbeutung ist Marx gänzlich fremd. Sie macht gerade die soziale Revolution unmöglich, die auf der Unterscheidung zwischen Ausbeutenden und Ausgebeuteten beruht. Und aufgrund der Vereinzelung des sich selbst ausbeutenden Leistungssubjekts formiert sich kein politisches Wir, das zu einem gemeinsamen Handeln fähig wäre.
Wer in der neoliberalen Leistungsgesellschaft scheitert, macht sich selbst dafür verantwortlich und schämt sich, statt die Gesellschaft oder das System in Frage zu stellen. Darin besteht die besondere Intelligenz des neoliberalen Regimes. Sie lässt keinen Widerstand gegen das System aufkommen. Im Regime der Fremdausbeutung ist es dagegen möglich, dass die Ausgebeuteten sich solidarisieren und sich gemeinsam gegen die Ausbeuter erheben. Auf dieser Logik beruht ja Marx' Idee der »Diktatur des Proletariats«. Sie setzt aber repressive Herrschaftsverhältnisse voraus. Im neoliberalen Regime der Selbstausbeutung richtet man die Aggression vielmehr gegen sich selbst. Diese Autoaggressivität macht den Ausgebeuteten nicht zum Revolutionär, sondern zum Depressiven.
Heute arbeiten wir nicht mehr für unsere eigenen Bedürfnisse, sondern für das Kapital. Das Kapital erzeugt eigene Bedürfnisse, die wir fälschlicherweise als unsere eigenen Bedürfnisse wahrnehmen.
Byung-Chul Han, Psychopolitik - Neoliberalismus und die neuen Machttechniken