Die Welt ist nicht so, wie sie aussieht. Es gibt keine Farben, sondern Wellenlängen, es gibt keine Töne, sondern schwingende Luft, es gibt eigentlich auch keine Luft, sondern verkettete Atome im Raum, wobei «Atome» ja auch nur ein Wort ist für Energieverschlingungen ohne Form und festen Ort, und was ist überhaupt Energie? Eine Zahl, die konstant bleibt, in allen Veränderungen, eine abstrakte Summe, die sich erhält, nicht Substanz, sondern Verhältnis, also reine Mathematik. Je genauer man hinsieht, desto leerer wird alles, desto irrealer sogar die Leere. Denn auch der Raum ist bloß eine Funktion, ein Modell unseres Geistes. Und der Geist, der diese Modelle erschafft? Vergiss nicht: Im Gehirn wohnt niemand. Kein unsichtbares Wesen schwebt durch die Nervenwindungen, blickt durch die Augen, horcht von innen an den Ohren und spricht durch deinen Mund. Augen sind keine Fenster. Da sind Nervenimpulse, aber niemand liest sie, zählt sie, übersetzt sie und denkt über sie nach. Such, so lange du willst, niemand ist zu Hause. Die Welt ist in dir, und du bist nicht da. Denn «du», das ist auch von innen gesehen bestenfalls ein Provisorium, notdürftig zusammengeflickt: ein paar Millimeter Blickfeld, das an den Rändern schon ins Nichts rinnt, darin blinde Flecken, ausgefüllt von Gewohnheit und einem Gedächtnis, das wenig bewahrt und das meiste erfindet. Dein sogenanntes Bewusstsein ist ein Flackern, ein Traum ist es, den niemand träumt.
Daniel Kehlmann, F

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Gunter Damisch - Der Träumende (1988)

Wer sich nicht mit Politik befasst, hat die politische Parteinahme, die er sich sparen möchte, bereits vollzogen: er dient der herrschenden Partei.
Max Frisch, Tagebuch 1946 – 1949

Politik, Kinder: bestenfalls ein schlimmes, schmutziges Geschäft. Wir hätten es meiden sollen, ich hätte nie vom Sinn träumen sollen. Ich komme zu dem Schluss, dass das Private, das unbedeutende individuelle Leben der Menschen der ganzen aufgeblähten makrokosmischen Aktivität vorzuziehen ist.
Salman Rushdie, Mitternachtskinder

Die moderne Geschichte hat, denke ich, hinreichend bewiesen, dass jeder Mensch, oder fast jeder, unter gewissen Voraussetzungen das tut, was man ihm sagt; und, verzeiht mir, die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass ihr die Ausnahme seid - so wenig wie ich. Wenn ihr in einem Land und in einer Zeit geboren seid, wo nicht nur niemand kommt, um eure Frau und eure Kinder zu töten, sondern auch niemand, um von euch zu verlangen, dass ihr die Frauen und Kinder anderer tötet, dann danket Gott und ziehet hin in Frieden. Aber bedenkt immer das eine: Ihr habt vielleicht mehr Glück gehabt als ich, doch ihr seid nicht besser. Denn solltet ihr so vermessen sein, euch dafür zu halten, seid ihr bereits in Gefahr. Gern stellen wir dem Staat - ob er totalitär ist oder nicht - den gewöhnlichen Menschen gegenüber, die Laus oder das kleine Licht. Dabei vergessen wir jedoch, dass der Staat aus Menschen besteht, mehr oder weniger gewöhnlichen Menschen, ein jeder mit seinem Leben, seiner Geschichte, jeder mit seiner Verkettung von Zufällen, die dafür gesorgt haben, dass er sich eines Tages auf der richtigen Seite des Gewehrs oder Dokuments wiederfindet, während andere auf der falschen stehen. Dieser Gang der Ereignisse ist in den seltensten Fällen das Ergebnis einer Entscheidung oder gar einer charakterlichen Veranlagung. Und die Opfer sind in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht deshalb gefoltert oder getötet worden, weil sie gut waren, ebenso wenig wie ihre Peiniger sie aus Bosheit gequält haben. Das zu glauben wäre reichlich naiv.
Jonathan Littell, Die Wohlgesinnten

Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. ...
Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen.
Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852)

Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muß also andere unglücklich machen.
Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (1905)

Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.
Theodor W. Adorno, Minima Moralia - Reflexionen aus dem beschädigten Leben