Die Schwierigkeit ist heute nicht mehr, dass wir unsere Meinung nicht frei äußern können, sondern Freiräume der Einsamkeit und des Schweigens zu schaffen, in denen wir etwas zu sagen finden. Repressive Kräfte hindern uns nicht mehr an der Meinungsäußerung. Im Gegenteil, sie zwingen uns sogar dazu. Welche Befreiung ist es, einmal nichts sagen zu müssen und schweigen zu können, denn nur dann haben wir die Möglichkeit, etwas zunehmend Seltenes zu schaffen: Etwas, das es tatsächlich wert ist, gesagt zu werden.
Gilles Deleuze, Mediators, zitiert in: Michael Hardt und Antonio Negri, Demokratie! Wofür wir kämpfen

Foucaults Disziplinargesellschaft aus Spitälern, Irrenhäusern, Gefängnissen, Kasernen und Fabriken ist nicht mehr die Gesellschaft von heute. An ihre Stelle ist längst eine ganz andere Gesellschaft getreten, nämlich eine Gesellschaft aus Fitnessstudios, Bürotürmen, Banken, Flughäfen, Shopping Malls und Genlabors. Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr die Disziplinargesellschaft, sondern eine Leistungsgesellschaft. Auch ihre Bewohner heißen nicht mehr »Gehorsamssubjekt«, sondern Leistungssubjekt. Sie sind Unternehmer ihrer selbst. ... An die Stelle von Verbot, Gebot oder Gesetz treten Projekt, Initiative und Motivation. Die Disziplinargesellschaft ist noch vom Nein beherrscht. Ihre Negativität erzeugt Verrückte und Verbrecher. Die Leistungsgesellschaft bringt dagegen Depressive und Versager hervor.
Byung-Chul Han, Müdigkeitsgesellschaft

Auf der Plattform von Simone de Beauvoirs schöner Formel «Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es» hatten sich alle versammeln können, die für die rechtlich-soziale Gleichstellung der Geschlechter eintraten. Dem feministischen Dekonstruktivismus war das nicht radikal genug. Da war «Frau» ja noch das Gegenstück zu «Mann»; da wurde noch binär gedacht. Hatte sich nicht aber die Binarität als Wurzel allen Übels, namentlich des Patriarchats und des Kapitalismus, geoffenbart?
Wo immer der Feminismus dieser Offenbarung aufsaß, betrieb er nun seine Selbstabwicklung, die Vervielfältigung der Geschlechter und ihre Auflösung in Kategorien des Zugehörigkeitsempfindens. Jede Fraktion der LGBTTI-Community gründet sich auf nichts als Empfindung. Ihre Identität hängt davon ab, daß sie sich angemessen spürt. … Das ist Ontologisierung der Empfindung zur ultima ratio. Ihre soziale Ausdrucksform ist Empfindlichkeitspolitik. Jede Fraktion muß permanent darauf achten, ob ihre Besonderheit in der Öffentlichkeit angemessen repräsentiert ist, ob es genügend Toiletten für sie gibt, ob Worte so gegendert werden, daß auch sie dabei ausdrücklich eingeschlossen sind. Der Geschlechterkampf diffundiert zum Vielfrontenkampf von lauter Diversen, die sich permanent benachteiligt fühlen und aufs empfindlichste ihre Berücksichtigung und Inklusion verlangen, ohne das gesellschaftliche Ganze, in das sie eingeschlossen zu werden wünschen, noch nennenswert zu thematisieren.
Christoph Türke, Natur und Gender. Kritik eines Machbarkeitswahns

Ich paraphrasiere: Menschen haben das Recht und die Freiheit, was sie sind/sein wollen (nicht einmal durch, sondern) als bloßen Willensakt zu definieren. Jede Wahrnehmung, die im Verdacht steht, diesen Akt zu missachten, indem sie entweder die Selbstsetzung bestreitet oder – was damit gleichgesetzt wird – sie als im sozialen Umgang für minder wichtig erachtet, wird als Versuch der Beschädigung der eigenen Identität angesehen. Man sieht, wie diese Vorstellung des Zusammenhangs von Identität und Freiheit in eine paradoxe Situation führt. Wenn die selbstgesetzte Identität als permanent bedrohte (angefeindete, missachtete) angesehen wird, muss die ganze Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung durch die anderen gerichtet sein. Auf diese Weise wird die Vorstellung von selbstgesetzter Identität zum Gegenteil ihrer selbst: Ich bin nur noch das, was die anderen nicht aus mir machen sollen. Das ist die Lebensform der Substanzlosigkeit. Ihre Rollenform findet sie im Habitus des Opfers.
Jan Philipp Reemtsma, Angst als Gefühl, up to date zu sein. PSYCHE 07/2022

Die aufgrund der Epidemie erforderlichen Massnahmen sollten nicht automatisch auf das übliche Paradigma von Überwachung und Kontrolle reduziert werden, das früher von Denkern wie Michel Foucault oder heute von Giorgio Agamben propagiert wird. ...
Doch rechte und linke Konstruktivisten weigern sich, die tatsächliche Realität der Epidemie zu akzeptieren. Das ist Ideologie in ihrer reinsten Form. ... Eine solche Einstellung verfehlt jedoch die paradoxe Situation: Die heutige Form von Solidarität besteht gerade darin, sich nicht die Hand zu geben und sich auch abzusondern, wenn es erforderlich ist.

Slavoj Žižek, Der Mensch wird nicht mehr derselbe gewesen sein: Das ist die Lektion, die das Coronavirus für uns bereithält. NZZ 13. März 2020

Die Epoche, die nun zu Ende gegangen ist, hatte an die Stelle des politischen Ideals das individuelle Glück gesetzt; sie hatte die Idee der Freiheit auf den Umkreis eines individuellen Lebens beschränkt, der mit ihrer höchsten Entfaltung verwechselt wurde. All dies muß sich von nun an ändern, wobei wir uns jedoch daran erinnern sollten, daß die Eroberung des Weltraums nicht dadurch gelang, daß man die Gesetze der Schwerkraft leugnete. Das gilt für die Physik wie für die Politik.
Antoine Garapon, Ein Ausnahmemoment, Lettre International 129

Zunächst einmal glaube ich keine halbe Sekunde an Aussagen wie „Nichts wird je wieder wie vorher sein“. … Das Hauptresultat des Coronavirus dürfte ganz im Gegenteil sein, dass es gewisse bereits angestoßene Veränderungen beschleunigt. … Wir werden nach der Ausgangssperre nicht in einer neuen Welt erwachen; es wird dieselbe sein, nur ein bisschen schlechter.
Michel Houellebecq, Brief an Augustin Trapenard vom 4. Mai 2020, in: Ein bisschen schlechter. Neue Interventionen, Essays

Wir können über die Coronakrise nicht mit Abstand nachdenken, anders als erhofft stehen wir ihr auch heute noch nicht gegenüber, sondern bleiben ihr ausgesetzt. Uns fehlt der feste Standort, von dem aus wir bereits nachträglich ein gültiges Fazit ziehen könnten. Wir wissen nicht, ob wir in dem Augenblick, wo wir uns gedanklich über die Infektion erheben, von ihr schon ergriffen worden sind. Daher müssen alle Versuche, die Pandemie und ihre Effekte zu verstehen, vorläufig und revisionsoffen bleiben. ...
Die Coronakrise ist keine Krise des Individuums, sie erreicht die ganze Gesellschaft, verändert die Basis, auf der sich Analytiker und Patientin begegnen. Die gesundheitlichen und ökonomischen Folgen sind gewiss, aber schwer abschätzbar. Wohin die Pandemie sich entwickelt, bleibt unabsehbar, und die Wissenschaft tastet weiterhin im Dunklen, auch wenn Virologen zu Popstars der Krise geworden sind. Die Bedrohungen tauchen nicht plötzlich auf, um zu verschwinden, nein, sie bleiben, aber sie bleiben auch ungreifbar. Gerade deshalb ist die Coronakrise unheimlich. ...
Wenn wir das therapeutische Sprechen in existenziellen Bedrohungen wahren wollen, so sind wir mit der entscheidenden Frage konfrontiert, wie zu sprechen ist, wie Worte zu finden sind, angesichts des „Abgrunds des Schweigens“ (Merleau-Ponty), der sich auftut in der Krise: Es ist schwer auszuhalten, dass die Zukunft unabsehbar ist, dass es keine symbolischen Eltern gibt, die die Wirklichkeit auslegen, die den Überblick wahren und der begrenzten Angst weitsichtig beruhigend entgegentreten könnten. Es fehlen die Worte, um die Erfahrung auf den Begriff zu bringen und dadurch zu entschärfen. Aber der Abgrund des Schweigens generiert, er konstituiert geradezu das Sprechen, nicht nur hier, aber auch hier – ein Abgrund, der eine produktive, konstruktive, vorwärts gerichtete Seite hat. … Auch wenn die vielfältigen Schockerfahrungen noch nicht ausgelegt, gedeutet und narrativ eingeordnet werden können, so ist nicht die Wortlosigkeit die Gefahr, sondern ihr Übergehen.
Joachim Küchenhoff, Die Arbeit im und am Unheimlichen. Die Coronakrise und die psychoanalytische Kur

Die traurige Wissenschaft, aus der ich meinem Freunde einiges darbiete, bezieht sich auf einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt, seit deren Verwandlung in Methode aber der intellektuellen Nichtachtung, der sententiösen Willkür und am Ende der Vergessenheit verfiel: die Lehre vom richtigen Leben. Was einmal den Philosophen Leben hieß, ist zur Sphäre des Privaten und dann bloß noch des Konsums geworden, die als Anhang des materiellen Produktionsprozesses, ohne Autonomie und ohne eigene Substanz, mitgeschleift wird. Wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren will, muß dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen. Redet man unmittelbar vom Unmittelbaren, so verhält man kaum sich anders als jene Romanschreiber, die ihre Marionetten wie mit billigem Schmuck mit den Imitationen der Leidenschaft von ehedem behängen, und Personen, die nichts mehr sind als Bestandstücke der Maschinerie, handeln lassen, als ob sie überhaupt noch als Subjekte handeln könnten, und als ob von ihrem Handeln etwas abhinge. Der Blick aufs Leben ist übergegangen in die Ideologie, die darüber betrügt, daß es keines mehr gibt.
Theodor W. Adorno, Minima Moralia - Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951)

So wenig wie das, was ein „gutes Leben“ ist, kann auch die Lehre davon vorab definiert werden, weil ein solcher Versuch normativ würde und vorschreiben müsste, wo er doch – wie die gute analytische Deutung auch – nur anregen kann. Wir brauchen keine Norm und keine Standards psychischer Gesundheit.
Michael Buchholz, Psychoanalyse als "weltliche Seelsorge" (Freud): Themenschwerpunkt: Lebenskunst. Journal für Psychologie 11 (2003)

Die sogenannte seelische Störung ist immer mehr als bloße Störung, nämlich Teil eines (unbewussten) seelischen Sinnzusammenhangs, genauer: Ausdruck einer individuellen Problematik und zugleich der individuellen Antwort auf sie. Der Mensch ist keine störungsanfällige, intelligente Maschine.
Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie. In: Krankheitsbilder und ihre Diagnosen. ÖBVP News August 2012