Erinnerungen sind alles, was uns von unseren Lebenserfahrungen bleibt, und die einzige Perspektive, die wir uns zu eigen machen können, wenn wir über unser Leben nachdenken, ist daher die des erinnernden Selbst. ...
Die Verwechslung der Erinnerung mit der tatsächlichen Erfahrung ist eine zwingende kognitive Illusion. ... Das erlebende Selbst hat keine Stimme. Das erinnernde Selbst irrt sich manchmal, aber es ist dasjenige, das Buch führt und bestimmt, was wir aus dem Leben lernen, und es ist auch dasjenige, das Entscheidungen trifft. ...
So seltsam es auch erscheinen mag, ich bin mein erinnerndes Selbst, und das erlebende Selbst, das mein Leben lebt, ist für mich wie ein Fremder.
Daniel Kahnemann, Schnelles Denken, langsames Denken

Die Erinnerung muss als heilloses Durcheinander gesehen werden. Erst wenn man ein Drama daraus macht, herrscht Ordnung.
Monika Helfer, Die Bagage

Immer wissen wir mehr, als wir zu sagen wissen. ... Während wir sprechen, tanzen unsere Gedanken begleitend auf dem Strom der Kommunikation herum, tauchen auf und wieder ab, verlieren sich, erleuchten manches, was gesagt wird, während sie uns von anderem ablenken. Und nie schaffen wir es, sie alle zu sagen – denn unsere Gedanken sind einfach rasant viel schneller als alles, was wir sagen könnten.  ... Friedrich Schiller formuliert 1795 das bekannte Distichon: »Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr«. Diese schöne Formulierung ist zweite Zeile eines Epigramms; dessen erste fragt mit Ausrufezeichen: »Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen!«, und dann gibt Schiller die Antwort, dass die Seele eben nicht sprechen könne. Sich aussagen, etwas von sich mitteilen, so die Entdeckung dieser prägnanten Zeilen, scheitert daran, dass das sprechende Subjekt in uneinholbarer Distanz im Augenblick des Sprechens zu sich situiert ist. Es kann nur von etwas aussagen, das in dem Augenblick schon kein Subjekt, sondern Objekt wird; Objekt einer Aussage über es, das Subjekt. … An das genannte Distichon schließt er eines an, das »An den Dichter« gerichtet ist. Es lautet:

»Laß die Sprache dir seyn, was der Körper den Liebenden; er nur 
Ists, der die Wesen trennt und der die Wesen vereint.«

Schien also jede Seele unaufschließbar in ihr körperlich-individuelles Gehäuse verbannt, so weist Schiller hier doch einen Ausweg zur communio. … Sicher aber ist, dass eine scharfe kontrastive Gegenüberstellung von Sprechen und Körper so nicht aufrechterhalten werden kann und auch nicht sollte. Denn jene Form der Liebe, die auch in der Therapeutik sublim ins Spiel kommen muss, ohne Regeln und Grenzen zu verletzen, artikuliert sich im gesprochenen, heilenden Wort. Teilt sie sich körperlich mit, wären zu respektierende Grenzen schon verletzt. Heilend ist dennoch die Überwindung jener Trennung, die durch die Individualität der Körper gegeben ist; sie kann in der Liebe körperlich überwunden werden. In der Psychotherapie hingegen braucht es das Sprechen. Die Worte Schillers könnten also auch als an uns Therapeuten gerichtet gelesen werden: dass wir die Sprache uns sein lassen, was der Körper den Liebenden ist. Die Wiedervereinigung findet im Medium des Symbolischen statt. 
Michael Buchholz, Wie sich implizites Wissen bei Therapeuten entwickelt

Wenn alle Psychologie seit der des Protagoras den Menschen erhöhte durch den Gedanken, er sei das Maß aller Dinge, so hat sie damit von Anbeginn zugleich ihn zum Objekt gemacht, zum Material der Analyse, und ihn selber, einmal unter die Dinge eingereiht, deren Nichtigkeit überantwortet. Die Verleugnung der objektiven Wahrheit durch den Rekurs aufs Subjekt schließt dessen eigene Negation ein: kein Maß bleibt fürs Maß aller Dinge, es verfällt der Kontingenz und wird zur Unwahrheit. Das aber deutet zurück auf den realen Lebensprozeß der Gesellschaft. Das Prinzip der menschlichen Herrschaft, das zum absoluten sich entfaltete, hat eben damit seine Spitze gegen den Menschen als das absolute Objekt gekehrt, und die Psychologie hat daran mitgewirkt, jene Spitze zu schärfen. Das Ich, ihre leitende Idee und ihr apriorischer Gegenstand, ist unter ihrem Blick stets zugleich schon zum Nicht-Existenten geworden. Indem Psychologie sich darauf stützen konnte, daß das Subjekt in der Tauschgesellschaft keines ist, sondern in der Tat deren Objekt, konnte sie ihr die Waffen liefern, es erst recht zu einem solchen zu machen und unten zu halten. Die Zerlegung des Menschen in seine Fähigkeiten ist eine Projektion der Arbeitsteilung auf deren vorgebliche Subjekte, untrennbar vom Interesse, sie mit höherem Nutzen einsetzen, überhaupt manipulieren zu können. Psychotechnik ist keine bloße Verfallsform der Psychologie, sondern ihrem Prinzip immanent.
Theodor W. Adorno, Minima Moralia - Reflexionen aus dem beschädigten Leben

Es liegt auf der Hand, daß jenes diffuse Phänomen, für das «ADHS» mehr eine Verlegenheitsbezeichnung als eine trennscharfe pathologische Diagnose ist, ohne umfassende kulturtheoretische Perspektive gar nicht angemessen begriffen werden kann. ADHS ist ja nicht einfach eine Krankheit in gesunder Umgebung. Umgekehrt: Nur wo schon eine Aufmerksamkeitsdefizitkultur besteht, gibt es ADHS. Ihr Wahrzeichen ist «konzentrierte Zerstreuung»: durch Milliarden winziger audiovisueller Schocks die menschliche Aufmerksamkeit auf etwas zu konzentrieren, was sie gerade zermürbt. Das ist das Aufmerksamkeitsdefizitgesetz, dessen Dynamik sich anschickt, unsere gesamte Kultur zu durchdringen. Gegen seine Wirkung kann man sich wehren; sie läßt sich verringern, aber - auf absehbare Zeit - nicht abstellen. Denn die konzentrierte Zerstreuung ist ein sich selbst verstärkender Mechanismus. Nur wer mehr Aufsehen erregt als andere, hat in der Flut aufmerksamkeitsheischender Impulse, mit der die Hochtechnologie uns umgibt, eine Chance, wahrgenommen zu werden. Und so darf man gewiß sein, daß das, was gegenwärtig unter ADHS firmiert - etwa jedes sechste Kind ist hierzulande nach vorsichtigen Schätzungen davon betroffen -, nur eine Ouvertüre ist: ein Anfang, eine Einstimmung, Ankündigung, Vorwegnahme zentraler Themen, ohne daß schon genau ersichtlich würde, was kommt - ganz wie in der Musik.
Christoph Türke, Hyperaktiv! Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur

Meiner Meinung nach sind vier existentielle Grundtatsachen in der Psychotherapie besonders relevant: die Unausweichlichkeit des Todes für jeden von uns und für die, die wir lieben; die Freiheit, unser Leben nach unserem Willen zu gestalten; unsere letztendliche Isolation und schließlich das Fehlen eines erkennbaren Lebenssinns.
Irvin D. Yalom, Die Liebe und ihr Henker & andere Geschichten aus der Psychotherapie

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Young visitor meets Mark Rothko