Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die »Wahrheit«: wir »wissen« (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel, als es im Interesse der Menschen-Herde, der Gattung, nützlich sein mag: und selbst, was hier »Nützlichkeit« genannt wird, ist zuletzt auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhängnisvollste Dummheit, an der wir einst zugrunde gehn.
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft

Wahrheit ist hier nicht „gefunden“, denn diese Metaphorik unterstellt, dass Wahrheit, weil irgendwo schon „da“ auch „gesucht“ werden könnte. Sie ist vielmehr interaktiv erfunden, sie ist immer idiosynkratisch, also individualisiert und intim an die Person gebunden, deshalb auch nicht übertragbar und nur mit großen Schwierigkeiten und Verletzungsrisiken formulierbar. Aber sie kann gelebt werden.
Michael Buchholz, Psychoanalyse als "weltliche Seelsorge" (Freud): Themenschwerpunkt: Lebenskunst. Journal für Psychologie 11 (2003)

Die Gegenstände kann ich nur nennen. Zeichen vertreten sie. Ich kann nur von ihnen sprechen, sie aussprechen kann ich nicht. Ein Satz kann nur sagen, wie ein Ding ist, nicht was es ist. ... Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig. Und es ist nicht verwunderlich, daß die tiefsten Probleme eigentlich keine Probleme sind. ... Der Zweck der Philosophie ist die logische Klärung der Gedanken. Die Philosophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit. Das Resultat der Philosophie sind nicht „philosophische Sätze“, sondern das Klarwerden von Sätzen. Die Philosophie soll die Gedanken, die sonst, gleichsam, trübe und verschwommen sind, klar machen und scharf abgrenzen.
Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus

Meine Gefühle beziehen sich nicht immer auf einen bestimmten Gegenstand. Ja, zum Beispiel das Verlangen. In manchen Fällen weiß man, wonach man verlangt, in anderen Fällen nicht. Zum Beispiel fühle ich, dass mir etwas fehlt, aber ich weiß nicht recht, was. Oder ich habe Angst. Dabei gibt es gar nichts Bestimmtes, was ich fürchten muss. Welcher Ausdruck bezieht sich nicht auf einen bestimmten Gegenstand? Ah ja, Ordnung, Logik. Ja, zum Beispiel kann mich etwas zum Weinen bringen, aber warum ich weine, das ist nicht in den Tränen drinnen, die mir über die Wangen laufen. Das heißt, man kann alles beschreiben was geschieht, wenn ich etwas tue, ohne deshalb sagen zu können, warum ich es eigentlich tue.
Juliette Jeanson in: Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß. Jean-Luc Godard (1967)

So werden wir, lebendige Einzelmenschen aus Fleisch und Blut, von früh auf eingestellt in das große Riesenreich der imaginären Gespenster: als da sind Gesellschaft, Behörde, Staat und Kirche, Kaste und Gruppe und all die unbarmherzigen und rein imaginären Abstrakta: das Recht, das Gesetz, die Schule, die gute Sache, die Majestät, der Mensch, die Ehre, die Ehe, das Gemeinwohl, die Ordnung, die Wissenschaft, die Familie, das Vaterland usw. Innerhalb dieser eingebildeten Gewalten wird jeder lebendige Einzelmensch, auch der beste, im Namen von Irgendwas zum Spürhund und Teufel wieder jeden anderen lebendigen Einzelmenschen erzogen, so daß das menschliche Einzelleben just als Triumph von lauter Idealen schließlich eine höchst reale Hölle ist.
Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen (München 1919)

Es ist sowohl eine künstlerische als auch eine politische Frage, die Desaster zu verstehen, die den großen Ideen, an die wir glauben, auf dem Fuß folgen. Es gilt einzusehen, dass die einzige Hoffnung in den kleineren Ideen liegt, in den Dingen, die aus der Peripherie kommen, die ihren Platz im Zentrum einnehmen, die sich verschieben und verändern, die nicht für alle Zeit bestehen und die sowohl provisorisch als auch vergänglich sind.
William Kentridge, In Verteidigung der weniger guten Idee. Sigmund Freud Vorlesung 2017

Im Unterschied zum meisten, das zählt, wäre die Kunst ohne die Menschen nicht auf der Welt. ... Und die Kunst, das kann glauben, wer will, ist eine der höchsten Wahrheiten unseres Daseins. Aber es ist eben höchstens die höchste, und wer weiß schon einen Ausweg aus den Aporien? Das hatte sogar die Religion nicht in petto, deren Erbe die Kunst in ihren schönsten Perioden, in den Kunstperioden, angetreten hat.
Eines Tages wird auch die höchste Wahrheit von einer anderen relativiert. Sie bedeutet nichts, sie wird vergessen, sie stirbt, sie verschwindet in der Geschichte. Aber solange sie noch lebt, ist ihr Besitz ein schlechter Ersatz für das Omnipotenzgefühl, mit dem wir, wenn alles halbwegs funktioniert, als Kinder zur Welt gekommen sind und das uns dann der Lebenslauf hat abgewöhnen müssen.
Franz Schuh, FORTUNA - Aus dem Magazin des Glücks

In den Ereignissen der Hochzeit, des Mordes und des Wahnsinns als abschließenden, bereinigenden Vorgängen, als Abläufen der Welt-Einrichtung, verdichten sich szenisch-konkret die Grundmöglichkeiten der menschlichen Sozialisation, jenes jahrelangen Prozesses, in dem das Individuum zu dem wird, was man »Glied der menschlichen Gesellschaft« nennt. Dieser Prozeß wird erlitten. Er kann scheitern, sichtbar oder unsichtbar, unsichtbar vielleicht bei allen äußeren Anzeichen eines erfolgreichen Abschlusses. Die bisher prägnanteste Theorie, was den dramatischen Kern dieses Prozesses betrifft, ist die Lehre von der ödipalen Krise, wie sie Freud entwickelt und erläutert hat. ...
Wer dann in späteren Jahren ein Buch liest, eine Geschichte hört, ein Theaterstück anschaut, spielt dabei immer, ungewollt und unausweichlich, etwas von jenem seinem ersten und ganz eigenen Drama wieder durch. Was er im Erlebnis der Literatur erhofft und fürchtet, was ihn dabei begeistert und entsetzt, weinen und lachen läßt, er kennt es alles schon mit Zwerchfell, Herz und Nieren, weil er selbst einmal Protagonist war auf Tod und Leben. ...
Die drei letzten, nicht mehr weiter reduzierbaren Themen der Literatur sind die szenischen Verkörperungen der drei möglichen Ausgänge aus dem Konflikt der frühkindlichen Sozialisation, welcher mit dem großen Vergessen um das fünfte Lebensjahr herum beendet wird, dem ersten Vorhang nach dem ersten Stück. ...
»Hochzeit« - das ist, im Denken der Literatur, die umfassende Versöhnung mit der allgemeinen Ordnung. ...
»Mord« - das ist, im Denken der Literatur, der fundamentale Konflikt mit der vorhandenen Ordnung. ...
»Wahnsinn« - das ist, im Denken der Literatur, der radikale Austritt aus der allgemeinen Ordnung. ...
Diesen drei Themen der Literatur entspricht jene Dreiheit, die die Kommunikationstheorie für die Grundformen der zwischenmenschlichen Verständigung nachgewiesen hat: Bestätigung, Verwerfung und Entwertung, das Ja, das Nein und die Ignoranz. So wie sie als Grundmöglichkeiten jeden Kommunikationsakt strukturieren, strukturieren Hochzeit, Mord und Wahnsinn als Ur-Inhalte alle Literatur.
Peter von Matt, Liebesverrat