Die Schwierigkeit ist heute, dass Psychoanalyse bedeutet, mit Patienten umgehen zu können, für die es keineswegs selbstverständlich ist, Einsichten zu folgen. Sie wissen alsbald, welches Tun oder Unterlassen angebrachter wäre – aber sie fragen sich und ihren Therapeuten oft, warum sie sich eigentlich so verhalten sollten, warum sie Verzicht auf gewisse prägenitale oder narzisstische „Vergnügungen“ leisten sollten? Das Einsichtsmodell setzte auf die Fähigkeit zum Verzicht und unterstellte eine allgemein geteilte Vorstellung von menschlicher Reifung, die anzustreben als sinnvoll betrachtet wurde. Eines von Freuds Lieblingszitaten war der Satz von Theodor Vischer, das Moralische verstehe sich von selbst. Das wird heute nicht mehr ohne weiteres von allen unterschrieben; heute gilt eher, der eigene Nutzen oder Vorteil verstehe sich von selbst.
Michael Buchholz, Psychoanalyse als "weltliche Seelsorge" (Freud): Themenschwerpunkt: Lebenskunst. Journal für Psychologie 11 (2003)