Es liegt auf der Hand, daß jenes diffuse Phänomen, für das «ADHS» mehr eine Verlegenheitsbezeichnung als eine trennscharfe pathologische Diagnose ist, ohne umfassende kulturtheoretische Perspektive gar nicht angemessen begriffen werden kann. ADHS ist ja nicht einfach eine Krankheit in gesunder Umgebung. Umgekehrt: Nur wo schon eine Aufmerksamkeitsdefizitkultur besteht, gibt es ADHS. Ihr Wahrzeichen ist «konzentrierte Zerstreuung»: durch Milliarden winziger audiovisueller Schocks die menschliche Aufmerksamkeit auf etwas zu konzentrieren, was sie gerade zermürbt. Das ist das Aufmerksamkeitsdefizitgesetz, dessen Dynamik sich anschickt, unsere gesamte Kultur zu durchdringen. Gegen seine Wirkung kann man sich wehren; sie läßt sich verringern, aber - auf absehbare Zeit - nicht abstellen. Denn die konzentrierte Zerstreuung ist ein sich selbst verstärkender Mechanismus. Nur wer mehr Aufsehen erregt als andere, hat in der Flut aufmerksamkeitsheischender Impulse, mit der die Hochtechnologie uns umgibt, eine Chance, wahrgenommen zu werden. Und so darf man gewiß sein, daß das, was gegenwärtig unter ADHS firmiert - etwa jedes sechste Kind ist hierzulande nach vorsichtigen Schätzungen davon betroffen -, nur eine Ouvertüre ist: ein Anfang, eine Einstimmung, Ankündigung, Vorwegnahme zentraler Themen, ohne daß schon genau ersichtlich würde, was kommt - ganz wie in der Musik.
Christoph Türke, Hyperaktiv! Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur