Wir können über die Coronakrise nicht mit Abstand nachdenken, anders als erhofft stehen wir ihr auch heute noch nicht gegenüber, sondern bleiben ihr ausgesetzt. Uns fehlt der feste Standort, von dem aus wir bereits nachträglich ein gültiges Fazit ziehen könnten. Wir wissen nicht, ob wir in dem Augenblick, wo wir uns gedanklich über die Infektion erheben, von ihr schon ergriffen worden sind. Daher müssen alle Versuche, die Pandemie und ihre Effekte zu verstehen, vorläufig und revisionsoffen bleiben. ...
Die Coronakrise ist keine Krise des Individuums, sie erreicht die ganze Gesellschaft, verändert die Basis, auf der sich Analytiker und Patientin begegnen. Die gesundheitlichen und ökonomischen Folgen sind gewiss, aber schwer abschätzbar. Wohin die Pandemie sich entwickelt, bleibt unabsehbar, und die Wissenschaft tastet weiterhin im Dunklen, auch wenn Virologen zu Popstars der Krise geworden sind. Die Bedrohungen tauchen nicht plötzlich auf, um zu verschwinden, nein, sie bleiben, aber sie bleiben auch ungreifbar. Gerade deshalb ist die Coronakrise unheimlich. ...
Wenn wir das therapeutische Sprechen in existenziellen Bedrohungen wahren wollen, so sind wir mit der entscheidenden Frage konfrontiert, wie zu sprechen ist, wie Worte zu finden sind, angesichts des „Abgrunds des Schweigens“ (Merleau-Ponty), der sich auftut in der Krise: Es ist schwer auszuhalten, dass die Zukunft unabsehbar ist, dass es keine symbolischen Eltern gibt, die die Wirklichkeit auslegen, die den Überblick wahren und der begrenzten Angst weitsichtig beruhigend entgegentreten könnten. Es fehlen die Worte, um die Erfahrung auf den Begriff zu bringen und dadurch zu entschärfen. Aber der Abgrund des Schweigens generiert, er konstituiert geradezu das Sprechen, nicht nur hier, aber auch hier – ein Abgrund, der eine produktive, konstruktive, vorwärts gerichtete Seite hat. … Auch wenn die vielfältigen Schockerfahrungen noch nicht ausgelegt, gedeutet und narrativ eingeordnet werden können, so ist nicht die Wortlosigkeit die Gefahr, sondern ihr Übergehen.
Joachim Küchenhoff, Die Arbeit im und am Unheimlichen. Die Coronakrise und die psychoanalytische Kur