Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.
Wie auch beim Tod die Welt sich nicht ändert, sondern aufhört.

Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus

Die Rubrik „Fundstücke“ versammelt in loser Form eine Sentimenthek von Gedanken, Textvignetten und Bildern, die in keinem anderen Zusammenhang stehen, als daß sie mir in Lektüren oder Gesprächen untergekommen sind und mich innehalten ließen. Angesprochen hat mich das Vorgefundene teils durch eine prägnante Formulierung eigener gedanklicher Sympathien, jedenfalls aber durch die Verführung, mich ausführlicher mit den jeweiligen Positionen auseinanderzusetzen. Und weil es mir einfach gefallen hat, auch als Lesestoff, um ihn hier in diesem virtuellen Salon aufzulegen.


Die Psychoanalyse ist aber nur scheinbar veraltet (Marcuse), ihre Aktualität in der Flüchtigen Moderne besteht in ihrer spezifischen Unzeitgemäßheit. Eine Kultur, die Selbsterforschung nicht durch Selbstreparatur ersetzen will, bleibt auf die Psychoanalyse angewiesen.
Gerhard Schneider, Die Psychoanalyse ist ein Humanismus. PSYCHE 8/2012

Die Rede von der Gewissheit hat eine lange Geschichte. Wie wir wissen, gehen seit Platon Gewissheit und Gewalt miteinander einher. Seit jenem ersten Gleichnis von den Gefangenen in der Höhle, die nur Schatten sehen, herrscht die Ansicht vor, dass es der Gewalt bedarf, um die Menschen aus der Höhle hinaus ins Licht zu führen, um sie aufzuklären. … Meiner Ansicht nach liegt eines der großen Verdienste der Psychoanalyse darin, uns gelehrt zu haben, dass es keine Heilung gibt. Dass es immer eine gewisse Unvollständigkeit gibt, ein gewisses Maß an Leid in der Welt, an Unglück, das unserem Dasein eingeschrieben ist. Und dass es zu einer Deformation kommt, sobald wir glauben, darüber hinweggekommen zu sein.
William Kentridge, In Verteidigung der weniger guten Idee. Sigmund Freud Vorlesung 2017

Es gibt keine Natur des Menschen, die den Menschen festlegt, sondern der Mensch ist das, wozu er sich macht.
Jean-Paul Sartre

Der folgende Satz aus Sartres Saint Genet war entscheidend für mich: »Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.« Er wurde zu einem Prinzip meines Lebens. Zur Maxime einer Askese, einer Arbeit am Selbst.
Didier Eribon, Rückkehr nach Reims

Ich kann mehr zu diesem Thema der Dezentrierung sagen, indem ich einen Hinweis von Daniel Dennett - dem nach meiner Einschätzung führenden Vertreter der Philosophie des Geistes - aufgreife. Dennett macht in seinem Buch Consciousness Explained den Vorschlag, wir sollten uns das menschliche Ich als »narrativen Schwerpunkt« vorstellen. Dieser Vorschlag schließt Gedanken über die Selbst- Erschaffung vermöge Selbst- Neubeschreibung ein, die sich bei Sartre und neuerdings auch in den Arbeiten von Charles Taylor finden. Alle drei Autoren sind der Ansicht, daß sich das Ich ändert, sobald es eine andere Geschichte darüber erzählt, wer es selbst ist (also z. B. eine Geschichte der Art, die man sich selbst erzählt, nachdem man eine neue Ehe geschlossen, sich einer Psychoanalyse unterzogen, an einem Krieg teilgenommen oder für eine politische Bewegung gekämpft hat). Mit der Änderung solcher Geschichten ändert sich auch der eigene Schwerpunkt, die moralische Identität.
Richard Rorty, Eine Kultur ohne Zentrum. Vier philosophische Essays (1991)

Ich weiß, daß es so etwas wie „sein Leben ändern“ nicht gibt: man dreht sich nur beständig innerhalb des Kreises der eigenen Persönlichkeit.
Oscar Wilde

... streng genommen ist die Frage nicht, wie man geheilt werden kann, sondern wie man leben soll.
Joseph Conrad, Lord Jim

Der Mensch muß sich nach sich selbst richten, aber jenes ›Selbst‹ ist ihm nicht vorgegeben, sondern aufgegeben. Er muß es im Nachdenken, Prüfen, Handeln und im Gespräch entwickeln, finden, erfinden.
Rüdiger Safranski, Das Böse oder Das Drama der Freiheit

Eine psychoanalytische Kur nach lacanianischem Vorbild sollte einen Prozess radikaler Externalisierung beinhalten. Ziel ist es, den Analysanden davon zu überzeugen, dass er für die Situationen, in denen er sich befindet, ausschließlich selbst verantwortlich ist; dass ihn seine Handlungen, nicht die ihnen zugrunde liegenden Motive, definieren; dass es keinen Wesenskern seines Daseins gibt, der anderen unzugänglich wäre. Lacan bezeichnet diese Idee gegen Ende seiner Lehre als Identifikation mit dem Symptom.
Rex Butler, Slavoj Žižek zur Einführung

Wir nennen etwas »Phantasievorstellung« statt »Dichtung« oder »Philosophie«, wenn es um Metaphern kreist, die bei anderen Leuten nicht auf fruchtbaren Boden fallen, also Weisen des Sprechens oder Handelns, für die wir anderen keine Verwendung haben. Freud zeigt uns aber, wie etwas, das der Gesellschaft sinnlos, lächerlich oder abscheulich vorkommt, doch von entscheidender Bedeutung sein kann für das Selbstverständnis einer Einzelperson, vielleicht ihre Weise ist, zu verstehen, woher die zufallsblinde Prägung stammt, die sich in allem zeigt, was sie tut. Umgekehrt sprechen wir von Genie statt von Exzentrizität oder Perversität, wenn eine private Zwangsvorstellung eine Metapher hervorbringt, für die wir Verwendung haben. Der Unterschied zwischen Genie und Phantasie ist nicht der Unterschied zwischen Prägungen, die eine Verbindung zu etwas Universellem, einer vorgängigen Realität dort draußen in der Welt oder tief im Inneren des Selbst herstellen, und anderen, denen das nicht gelingt. Es ist vielmehr der Unterschied zwischen Idiosynkrasien, die zufällig bei anderen Menschen auf fruchtbaren Boden fallen - zufällig wegen der Kontingenzen einer historischen Situation, eines besonderen Bedürfnisses, das eine bestimmte Gemeinschaft zufällig zu einer bestimmten Zeit hat -, und anderen, die das nicht tun.
Kurz: Fortschritt in der Dichtung, Kunst, Philosophie, Wissenschaft oder Politik ergibt sich aus der zufälligen Koinzidenz einer privaten Zwangsvorstellung und eines weitverbreiteten Bedürfnisses. Starke Dichtung, die Moral des gesunden Menschenverstandes, revolutionäre Moral, normale Wissenschaft, revolutionäre Wissenschaft und Phantasie, die nur einer einzigen Person verständlich ist, sie alle sind in Freuds Sicht nur verschiedene Weisen, mit zufallsblinden Prägungen umzugehen - oder genauer, Weisen, mit verschiedenen zufallsblinden Prägungen umzugehen; diese Prägungen können Unikate sein, nur bei einem Individuum auftreten, oder allen Mitgliedern einer bestimmten, historisch bedingten Gemeinschaft eigen sein. Keine dieser Umgangsweisen hat deshalb ein Privileg vor anderen, weil sie die menschliche Natur besser zum Ausdruck brächte. Keine ist menschlicher oder weniger menschlich als eine andere, sowenig, wie die Feder in genauerem Sinne ein Werkzeug ist als das Schlachtermesser oder die Orchideenkreuzung weniger eine Blume als die wilde Rose.
Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität

Das Freudsche Unbewußte hat nicht durch die Behauptung, das rationale Selbst sei dem viel größeren Bereich der irrationalen blinden Instinkte untergeordnet, einen solchen Skandal verursacht, sondern weil es deutlich gemacht hat, wie das Unbewußte selbst seiner eigenen Grammatik und Logik folgt: Das Unbewußte spricht und denkt. Das Unbewußte ist nicht das Reservat wilder Triebe, die vom Ich gezähmt werden müssen, sondern der Ort, an dem sich eine traumatische Wahr­heit äußert. Darin besteht Lacans Version von Freuds Motto »Wo Es war, soll Ich werden«: nicht »das Ich soll das Es besiegen«, den Ort der unbewußten Triebe einnehmen, sondern »Ich muß es wagen, mich dem Ort meiner Wahrheit zu nähern«. Was mich »dort« erwartet, ist keine tiefe Wahrheit, mit der ich mich identifizieren muß, sondern eine unerträgliche Wahrheit, mit der zu leben ich lernen muß.
Slavoj Žižek, Lacan Eine Einführung

Die Schwierigkeit ist heute, dass Psychoanalyse bedeutet, mit Patienten umgehen zu können, für die es keineswegs selbstverständlich ist, Einsichten zu folgen. Sie wissen alsbald, welches Tun oder Unterlassen angebrachter wäre – aber sie fragen sich und ihren Therapeuten oft, warum sie sich eigentlich so verhalten sollten, warum sie Verzicht auf gewisse prägenitale oder narzisstische „Vergnügungen“ leisten sollten? Das Einsichtsmodell setzte auf die Fähigkeit zum Verzicht und unterstellte eine allgemein geteilte Vorstellung von menschlicher Reifung, die anzustreben als sinnvoll betrachtet wurde. Eines von Freuds Lieblingszitaten war der Satz von Theodor Vischer, das Moralische verstehe sich von selbst. Das wird heute nicht mehr ohne weiteres von allen unterschrieben; heute gilt eher, der eigene Nutzen oder Vorteil verstehe sich von selbst.
Michael Buchholz, Psychoanalyse als "weltliche Seelsorge" (Freud): Themenschwerpunkt: Lebenskunst. Journal für Psychologie 11 (2003)

Bis heute beansprucht das Narrativ der Psychoanalyse erstens eine Wissenschaft zu sein und zweitens darin eine Struktur aufdecken zu können, die sowohl für die Konstituierung des Subjekts als auch der Gesellschaft determinierend ist – trotz starker Konkurrenz durch die Kognitions- und Neurowissenschaften, dem Bedeutungsverlust ihrer Praxis durch den Aufstieg der Pharmaindustrie und neuer Medikamente. Sogar ein selbstverschuldetes Versagen kann ins Treffen geführt werden, das darin liegt, keine angemessene Antwort auf die Veränderungen in der Gesellschaft und ihrer Pathologien zu haben, die von einer Pflicht zum Verzicht zu einer Pflicht zum Genuss übergangen zu sein scheint.
Michael Schmid, Das Paradox des sozialen Bandes. Psychoanalytische Perspektiven

Die Psychoanalyse ist sozial empfindlicher als viele andere Wissenschaften, vergleichbar etwa der Geschichtsforschung, die bekanntlich in Diktaturen jeder Art verkommt und zum Absterben verurteilt ist. Damit in Zusammenhang steht ein zweiter Faktor, den ich den ideologischen oder weltanschaulichen nenne. Eine Weltanschauung vertritt die Psychoanalyse zwar nicht, sie beruht aber auf einer solchen. Sie ist einem radikalen Humanismus verpflichtet. Die Praxis und die psychoanalytische Forschung werden beeinträchtigt und verzerrt, sobald der Geist der Aufklärung einem obskurantistischen, chauvinistischen oder sonstwie reaktionären Klima weicht und damit ein liberales Menschenbild untergeht. Da die herrschende Ideologie immer bald jene der Herrschenden ist, tritt diese Beeinträchtigung schon vor jedem polizeilichen Eingriff ein. ...
Psychoanalyse ist ohne den Angriff auf die herrschenden Verhältnisse nicht möglich, die Gesellschaftskritik ist ihr inhärent. ...
Alle, die in der Psychoanalyse eine kritische Humanwissenschaft sehen, treten gegen mächtige Herrschaftsstrukturen an. Ihr Ziel ist es nicht, den Analysanden zu weiterer Anpassung zu verhelfen.

Paul Parin, Die Beschädigung der Psychoanalyse in der angelsächsischen Emigration und ihre Rückkehr nach Europa. PSYCHE 3/1990

Ich persönlich interessiere mich für Forschung überhaupt nicht. Ich halte es für willfährig und servil zu glauben, dass man den gängigen Kriterien Genüge tun müsse. Meiner Meinung nach sollten Psychoanalytiker dem wissenschaftlichen Modell nicht dermaßen gläubig anhängen. Ich denke nicht, dass die Psychoanalyse eine Wissenschaft ist oder dass sie es für erstrebenswert erachten sollte, eine zu sein.
Adam Phillips, zitiert in: Peter Fonagy & Chloe Campbell, Böses Blut – ein Rückblick: Bindung und Psychoanalyse, 2015. PSYCHE 4/2017

Sigmund Freud hat eine Umwälzung in der Kultur des Nachdenkens über uns selbst angestoßen, deren radikale Konsequenzen freilich auch heute noch selten mehr als in schattenhaften Umrissen begriffen werden. Es liegt schon an der inneren Logik dieser Denkanstöße, dass wir sie nur mit großer Mühe aufnehmen können und dabei von häufigen Missverständnissen behindert werden, die aus unseren inneren Widerständen herrühren; schließlich bildet ja gerade das Thema dieser Widerstände das Herzstück dieser Denkanstöße selbst.
Josef Berghold, Suchbewegungen zu den unbewussten Wurzeln der Schwäche unserer politischen Vorstellungskraft. WERKBLATT Nr. 73

Wer immer es mit kleinen Kindern zu tun hat, wird sich an Freuds Bemerkung erinnern, man möge doch die strahlende Intelligenz eines Vierjährigen mit der Stupidität der meisten Erwachsenen vergleichen. Seine Intention dabei war die Denunziation religiöser Erziehung - kein Einwand -, aber dass es nur darum gehe, ist - war - eine Illusion. Die Gesichter einigermaßen gewaltfrei aufwachsender Kinder heißen einfach die Welt in einer einen Erwachsenen verblüffenden Weise willkommen, obwohl die Kinder ja schon wissen, dass man sich in dieser Welt zum Beispiel ziemlich wehtun kann. Aber der Erwachsene, der sich an einem solchen Gesicht zu freuen versteht, weiß doch auch, dass wir alle - Eltern, Großeltern, Freunde, Verwandte, Unbekannte - gemeinsam daran arbeiten werden, das Strahlen in so einem Gesicht zum Erlöschen zu bringen, es auszuwischen und das Kind auf den Weg zu einem Erwachsenen zu bringen, der nicht unbedingt stupide sein muss, aber der es gründlich verlernt hat, die Welt als solche willkommen zu heißen. Aber so ist das eben mit dem Erwachsenwerden, und ein Erwachsener, der wie ein Kind in die Welt blickte, wäre kein reizender Anblick, sondern ein pathologischer Fall. Kurz, dieses Strahlen muss verschwinden, weil wir nicht anders können, als es zum Verschwinden zu bringen, weil es so ist, war und sein wird. Und auch, weil es so sein muss. Aber es ist ziemlich traurig - und schmerzlich, darüber nachzudenken.
Es ist, bei aller Einsicht in den Gang der Dinge, richtig, glaube ich, sich die Empfindung des Schmerzes auch über den notwendigen Gang der Dinge nicht abzugewöhnen. Dazu aber braucht es Kontakt zu jenen individuellen Bereichen, zur jenen eigenen biographischen Episoden, in denen man dann die Momente erkennt, in denen einem selbst dieses Strahlen aus dem Gesicht gewischt worden ist. Der Kontakt zur eigenen Biographie ist die Voraussetzung für Empathie und zum Sichselbst-Verstehen als Gattungswesen.
Jan Phillip Reemtsma, Wie weiter mit Sigmund Freud? Hamburger Edition 2008

Neurotische Unlust entsteht, Freud zufolge, als Produkt einer durch Verdrängung verursachten Verwandlung von Lust in Unlust. ... Affekte wie Ekel, Angst, Schuld, Übelkeit, Unmut, Aggression, Neid, Eifersucht etc. können folglich als die ins Negativ verkehrten Formen einer Lust begriffen werden. Gilles Deleuze hat in seinem Kommentar zu Spinoza solche Affekte als »trübsinnige Leidenschaften« bezeichnet. ...
Eine Lust, die nicht sein darf, verschafft sich Durchbruch, indem sie als Unlust ausgelebt und erfahren wird. Weil die Leute solche Affekte als Unlust erfahren, leiden sie; weil dieser Unlust aber Lust zugrunde liegt, können sie dennoch nicht von ihr lassen. ... Dementsprechend lassen sich die Unglücklichen auch kaum aus ihrem Unglück befreien. ... Diese leidenschaftliche Dimension des Verzichts auf Lust verdient deshalb besondere Beachtung, weil sie nicht allein im individuellen Leben auftritt. Sie ist vielmehr auch eine Konstante in der Politik: Es ist ein auffälliges Merkmal gerade der rechten Politik, daß sie es immer wieder fertigbringt, ihre Nachteile in Vorteile zu verwandeln und gerade diejenigen, die von ihr geschädigt werden, zu ihren fanatischen Anhängern zu machen. ...
Wie funktionieren die trübsinnigen Leidenschaften? Warum wird die Lust manifest als Unlust erfahren? Und warum wird die Unlust aufgesucht, als wäre sie ein Glück?
1914, in seinem Aufsatz über den Narzißmus, führt Freud eine Unterscheidung ein, die es ermöglicht, das zu erklären: die Unterscheidung zwischen Ich- und Objektlibido. Entscheidend ist dabei die von Freud postulierte Durchlässigkeit von der einen zur anderen, bei gleichbleibender Gesamtmenge. Wenn also eine Menge sexueller Energie vom Objekt abgezogen wird - z. B. weil das Objekt verlorengegangen ist so kann diese selbe Libidomenge in einem anders gearteten Objekt, nämlich dem Ich, untergebracht werden. ... Bei der Verwandlung von Objektlibido in Ichlibido verändert sich jedoch die Art der Lusterfahrung. Um es in alltäglicheren Begriffen zu formulieren, könnten wir sagen:
Aus Glück wird Selbstachtung. ...
Die Selbstachtung ist stolz, sich selbst für etwas anderes, Kostbareres zu halten als das Glück (zum Beispiel für »interesseloses Wohlgefallen« oder auch für »Pflicht« anstelle von »Neigung«). Die Erkenntnis der Psychoanalyse, daß zwischen Glück und Selbstachtung ein und dieselbe libidinöse Substanz zirkuliert, daß beide also aus demselben Stoff gemacht sind, muß die Selbstachtung prinzipiell vor sich selbst wie vor anderen verheimlichen. Aus dieser Verheimlichung ergibt sich dann gleichermaßen die Stärke wie die Glücksunfähigkeit der Selbstachtung.
Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur

Die beiden Grundregeln der psychoanalytischen Kur, das Prinzip der freien Assoziation und der gleichschwebenden Aufmerksamkeit, bauen auf der Unverfügbarkeit der Sprache und des Sprechens auf. Gerade weil in der Kur das psychoanalytische Hören und Sprechen nicht die vorgebahnten Wege gehen muss, die die Erkenntnis immer neu dorthin zurückführt, von wo sie ausgegangen ist, sind neue Wege der Selbsterkenntnis und des Verständnisses für den Anderen möglich. Der offene Erwartungshorizont des Analytikers oder der Analytikerin und die Leere seiner oder ihrer eigenen Vorstellungswelt sind die Voraussetzungen dafür, dass die im Unbewussten fixierten, an die vergangenen Erfahrungen gebundenen Erwartungen überhaupt sichtbar oder spürbar werden. ... Die fixierten Erwartungen sind an vergangene Erfahrungen gebunden, mit der Folge, dass die Zukunft implizit als die Wiederholung des Vergangenen erlebt wird, so dass sie schon immer als vorbestimmt oder geschlossen erscheint. Mit der Unverfügbarkeit des psychoanalytischen Erkenntniswegs sind Zukunftsorientierung und Hoffnung auf Veränderung verknüpft. Psychoanalyse ersetzt die gebundenen durch offene Erwartungen. Das Paradox der psychoanalytischen Therapie, das oft genug in außerpsychoanalytischen Diskursen unverstanden bleibt, besteht gerade darin, dass einerseits die Unverfügbarkeit anerkannt wird, dass aber die Therapie diese Anerkennung zum Ausgangspunkt nimmt, um ... aus ihrer Erfahrung Möglichkeiten und Möglichkeitsräume im Sinne von D. W. Winnicott herauszuarbeiten. So bleibt die psychoanalytische Erfahrung nicht bei der Erkenntnis des Mangels stehen, ebenso wenig wie sie darauf ausgerichtet ist, ihn vollends zu beheben und Unbewusstheit endgültig aufzuheben. Aber sie arbeitet an und mit der Unverfügbarkeit. Sie löst Fixierungen auf, nicht um den autonomen, den von den – früher so genannten – »Restneurosen« befreiten Menschen zu schaffen, der sich selbst durchsichtig ist, sondern um die Spielräume des Erlebens und des Lebens zu vergrößern und damit Zukunft zu öffnen. Joachim Küchenhoff, Für Unverfügbares offen bleiben. PSYCHE 3/2021

Ich ... meine, daß alle Symptome auch diesen kommunikativen Aspekt haben. Sie »wollen« etwas mitteilen, etwas »erzählen«, was für den Patienten sonst unsagbar bleiben müßte. Nicht nur die hysterischen Inszenierungen, sondern z.B. auch Zwänge, Phobien, selbstzerstörerisches Verhalten, sich ständig wiederholendes Agieren sind solche Berichte über einen Leidensweg, ein erlittenes Unrecht, eine Demütigung, einen schmerzlichen Verlust, eine nicht erfüllte Sehnsucht, eine nicht bezwingbare Angst. Diese »Symptomsprache« dient nicht etwa nur dem sekundären Krankheitsgewinn (vermehrte Zuwendung durch die Umgebung). Ihre Hauptfunktion besteht in der Befriedigung des vielleicht intensivsten menschlichen Bedürfnisses, nämlich sich mitzuteilen. Ein solches Symptomverständnis ist eminent wichtig, weil die Übersetzung des Symptoms und die adäquate Beantwortung der in ihm enthaltenen Mitteilung eine der wichtigsten Bestandteile jeder psychoanalytischen Behandlung sein muß.
Stavros Mentzos, Neurotische Konfliktverarbeitung

Ich habe wiederholt von meinen Kranken, wenn ich ihnen Hilfe oder Erleichterung durch eine kathartische Kur versprach, den Einwand hören müssen: »Sie sagen ja selbst, daß mein Leiden wahrscheinlich mit meinen Verhältnissen und Schicksalen zusammenhängt: daran können Sie ja nichts ändern; auf welche Weise wollen Sie mir denn helfen?« Darauf habe ich antworten können: »Ich zweifle ja nicht, daß es dem Schicksale leichter fallen müßte als mir, Ihr Leiden zu beheben; aber Sie werden sich überzeugen, daß viel damit gewonnen ist, wenn es uns gelingt, Ihr hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln. Gegen das letztere werden Sie sich mit einem wiedergenesenen Seelenleben besser zur Wehre setzen können.«
Sigmund Freud, Studien über Hysterie (1895)

Ohne hier auf die Diskussion um den »common ground« der Psychoanalyse einzugehen, möchte ich, gleichsam unterhalb dieser offiziellen Diskursebene, einige sozialisationstheoretische Annahmen formulieren, die meines Erachtens die analytische Tätigkeit allgemein begründen:
1. Der gattungsgeschichtliche Übergang von Natur zu Kultur konstituiert sich im Aufbau einer sinnstrukturierten sozialen Welt, einer symbolischen Ordnung und der damit verbundenen Sprachentwicklung. Diese sinnstrukturierte soziale Welt ist der historischen Veränderung – entsprechend den gesellschaftlichen Verhältnissen und dem kulturellen Entwicklungsstand – unterworfen.
2. Sozialisation bedeutet, daß jedes Kind – vorwiegend in der Beziehung zu seinen primären Bezugspersonen – in diese sinnstrukturierte Welt eingeführt wird und eine Kompetenz erwirbt, sich in ihr zu orientieren und zu verhalten.
3. Hinsichtlich der frühesten und prägendsten Erfahrungen dieser Sozialisation besteht ab einem bestimmten Lebensalter eine Amnesie. Ohne besondere Verfahren bleiben diese Erfahrungen für die Erinnerung unzugänglich, sie hinterlassen aber gleichwohl in der psychischen Struktur des Individuums ihren Niederschlag und bestimmen in hohem Maße sein Erleben und Verhalten.
4. Psychische Störungen sind, soweit sie Gegenstand des psychoanalytischen Verfahrens werden können, in der Regel auf Störungen dieses Sozialisationsprozesses zurückzuführen. Sie sind insoweit sein Ergebnis. Im Falle schwerwiegender Traumatisierung im späteren Lebensalter bei zuvor intakter psychischer Struktur resultiert psychische Störung aus der bleibenden Läsion des primären Sozialisationsergebnisses.
5. Im psychoanalytischen Verfahren wird die Aufhebung oder Milderung psychischer Störung soweit erreicht, wie die unbewußten Spuren bewußt gemacht werden können, welche die Kindheitsgeschichte oder eine spätere Traumatisierung in der psychischen Struktur des Individuums hinterlassen haben. Die sprachliche Aneignung und Sinn-Rekonstruktion gestörter Sozialisation wird ermöglicht auf der Basis eines Erfahrungs- und Einsichtsprozesses, der in Inhalt, Intensität und Reichweite dem ursprünglichen Sozialisationsprozeß ähnelt. Dies ist die Bedingung der Möglichkeit, auf psychische Struktur verändernd einzuwirken.
Thomas Pollak, Über die berufliche Identität des Psychoanalytikers. Versuch einer professionstheoretischen Perspektive. PSYCHE 12/1999

Vor etwa zweihundert Jahren faßte in der Vorstellungswelt Europas der Gedanke Fuß, daß die Wahrheit gemacht, nicht gefunden wird. Die Französische Revolution hatte gezeigt, daß sich das ganze Vokabular sozialer Beziehungen und das ganze Spektrum sozialer Institutionen beinahe über Nacht auswechseln ließ. Dieser Präzedenzfall bewirkte, daß utopische politische Vorstellungen bei den Intellektuellen von der Ausnahme zur Regel wurden. Diese Ausprägung politischen Denkens schiebt die Fragen nach dem göttlichen Willen und dem menschlichen Wesen beiseite und träumt von der Erschaffung einer neuen Spielart des Menschseins.
Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität

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Paris 1789 - Istanbul 2013

Obskurantismus (zu lateinisch obscurare = verdunkeln; verbergen, verhehlen)
Bestreben, die Menschen bewusst in Unwissenheit zu halten, ihr selbstständiges Denken zu verhindern und sie an Übernatürliches glauben zu lassen.
Duden online

Das Programm, welches uns das Lustprinzip aufdrängt, glücklich zu werden, ist nicht zu erfüllen, doch darf man - nein, kann man - die Bemühungen, es irgendwie der Erfüllung näherzubringen, nicht aufgeben. Man kann sehr verschiedene Wege dahin einschlagen, entweder den positiven Inhalt des Ziels, den Lustgewinn, oder den negativen, die Unlustvermeidung, voranstellen. Auf keinem dieser Wege können wir alles, was wir begehren, erreichen. Das Glück in jenem ermäßigten Sinn, in dem es als möglich erkannt wird, ist ein Problem der individuellen Libidoökonomie. Es gibt hier keinen Rat, der für alle taugt; ein jeder muß selbst versuchen, auf welche besondere Fasson er selig werden kann. ...
Die Religion beeinträchtigt dieses Spiel der Auswahl und Anpassung, indem sie ihren Weg zum Glückserwerb und Leidensschutz allen in gleicher Weise aufdrängt. Ihre Technik besteht darin, den Wert des Lebens herabzudrücken und das Bild der realen Welt wahnhaft zu entstellen, was die Einschüchterung der Intelligenz zur Voraussetzung hat. Um diesen Preis, durch gewaltsame Fixierung eines psychischen Infantilismus und Einbeziehung in einen Massenwahn gelingt es der Religion, vielen Menschen die individuelle Neurose zu ersparen. Aber kaum mehr; es gibt, wie wir gesagt haben, viele Wege, die zu dem Glück führen können, wie es dem Menschen erreichbar ist, keinen, der sicher dahin leitet. Auch die Religion kann ihr Versprechen nicht halten. Wenn der Gläubige sich endlich genötigt findet, von Gottes »unerforschlichem Ratschluß« zu reden, so gesteht er damit ein, daß ihm als letzte Trostmöglichkeit und Lustquelle im Leiden nur die bedingungslose Unterwerfung übriggeblieben ist. Und wenn er zu dieser bereit ist, hätte er sich wahrscheinlich den Umweg ersparen können.
Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur

Die Weltreligionen sind es, welche die größten historischen Krisen herbeiführen.
Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen

Wer sich einmal dazu gebracht hat, alle die Absurditäten, die die religiösen Lehren ihm zutragen, ohne Kritik hinzunehmen, und selbst die Widersprüche zwischen ihnen zu übersehen, dessen Denkschwäche braucht uns nicht arg zu verwundern. Nun haben wir aber kein anderes Mittel zur Beherrschung unserer Triebhaftigkeit als unsere Intelligenz. Wie kann man von Personen, die unter der Herrschaft von Denkverboten stehen, erwarten, daß sie das psychologische Ideal, den Primat der Intelligenz, erreichen werden?
Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion

Religionen und Ideologien, die das Loch des Seins mit Sinn stopfen, werden wohl immer wieder triumphieren. Darin liegen ihre Stärke und ihre Macht, was umgekehrt bedeutet, dass alles, was die Löcher des Seins mit Sinn zu stopfen vermag, Religion werden kann. Der Fortschritt der Geistigkeit, oder wie Freud es sich erhoffte, die »Stimme des Intellekts« wird diesen Wunsch nach dem Göttlichen zwar nicht überwinden können, gewiss aber mäßigen.
Michael Schmid, Das Paradox des sozialen Bandes. Psychoanalytische Perspektiven

Das Problem des Glaubens ist kein intellektuelles, sondern ein moralisches: Nicht mangelhafte Denkbarkeit der Idee wirft das Problem der Glaubwürdigkeit auf, sondern die gering anmutende Eignung des Ideals zur Identifizierung mit ihm.
Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur

Die Psychoanalyse begründet primär keine Moral, sondern untersucht die Ursprünge und Bedingungsfaktoren moralischer Einstellungen, die sie bewusst macht, mit dem Ziel, dass sie entweder in die bewusste Verantwortung übernommen oder aber abgebaut werden können.
Joachim Küchenhoff, Für Unverfügbares offen bleiben. PSYCHE 3/2021

Ich denke, wir können die Welt nur über eine „Ideologie“ aufnehmen, d.h. über ein strukturiertes Vorurteil.
Christian Schacht, „Vielleicht ist es so.“ Protokoll einer Psychoanalyse

Schon Aristoteles unterscheidet die Wirkursache von der Zweckursache, die causa efficiens von der causa finalis, jene ist der Grund, aus dem, diese der Zweck, zu dem etwas geschieht. Die Wissenschaft der Neuzeit eliminiert nach und nach die Zweckursachen aus unseren Erklärungsmodellen: In einer gottlosen Welt passieren die Dinge aus Gründen, aber nicht zu Zwecken. Beim Erzählen jedoch bleiben Zwecke unverzichtbar, und der Erzähler spielt, ob er das will oder nicht, in seinem eigenen beschränkten Kosmos Gott. In der Realität walten die Gesetze der Physik, in der Erzählung aber die Zwecke der Dramaturgie.
Daniel Kehlmann, Kommt, Geister. Frankfurter Vorlesungen

Jeder prüfe seine Gedanken. Er wird finden, daß sie ganz mit der Vergangenheit oder der Zukunft beschäftigt sind. Wir denken fast überhaupt nicht an die Gegenwart, und wenn wir an sie denken, so nur, um aus ihr die Einsicht zu gewinnen, mit der wir über die Zukunft verfügen wollen. Die Gegenwart ist niemals unser Ziel.
Die Vergangenheit und die Gegenwart sind unsere Mittel; allein die Zukunft ist unser Ziel. Deshalb leben wir nie, sondern hoffen auf das Leben, und da wir uns ständig bereit halten, glücklich zu werden, ist es unausbleiblich, daß wir es niemals sind.
Blaise Pascal, Gedanken

Es gibt nur einen angeborenen Irrtum und es ist der, daß wir da sind, um glücklich zu sein. Angeboren ist er uns, weil er mit unserm Dasein selbst zusammenfällt und unser ganzes Wesen eben nur seine Paraphrase, ja unser Leib sein Monogramm ist: sind wir doch eben nur Wille zum Leben; die sukzessive Befriedigung alles unsers Wollens aber ist, was man durch den Begriff des Glückes denkt.
Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung

Solange man wünscht, braucht man nicht glücklich zu sein; man erwartet es zu werden; wenn das Glück nicht kommt, so verlängert sich die Hoffnung und der Reiz der Täuschung dauert so lange, als die Leidenschaft, aus der sie entspringt. So ist dieser Zustand sich selbst genug, und die Unruhe, die er verursacht, ist eine Art Genuß, der für die Wirklichkeit entschädigt und vielleicht mehr wert ist, als sie. Wehe dem, der nichts mehr zu wünschen hat! Er verliert, so zu sagen, alles, was er besitzt. Man hat weniger Genuß von dem, was man verlangt, als von dem, was man hofft, und man ist nur glücklich, ehe man glücklich ist. ... Das Land der Träume ist das einzige in dieser Welt, das würdig ist, bewohnt zu werden, und so groß ist die Nichtigkeit der menschlichen Dinge, daß außer dem Wesen, welches durch sich selbst ist, nichts schön ist, als was nicht ist.
Jean Jacques Rousseau, Julie oder Die neue Heloise: Historischer Roman

Das Glück ist kein leichtes Ding. Es ist sehr schwer in uns zu finden, und vergeblich, anderswo danach zu suchen.
Nicolas Chamfort (1741 – 1794)

Unlängst hat mich eine junge Journalistin gefragt, ob ich glücklich bin. Junge Leute stellen solche Fragen, die wissen noch nicht, dass Glück etwas für Augenblicke ist und man damit zufrieden sein muss, zufrieden zu sein.
Christine Nöstlinger

Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die »Wahrheit«: wir »wissen« (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel, als es im Interesse der Menschen-Herde, der Gattung, nützlich sein mag: und selbst, was hier »Nützlichkeit« genannt wird, ist zuletzt auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhängnisvollste Dummheit, an der wir einst zugrunde gehn.
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft

Wahrheit ist hier nicht „gefunden“, denn diese Metaphorik unterstellt, dass Wahrheit, weil irgendwo schon „da“ auch „gesucht“ werden könnte. Sie ist vielmehr interaktiv erfunden, sie ist immer idiosynkratisch, also individualisiert und intim an die Person gebunden, deshalb auch nicht übertragbar und nur mit großen Schwierigkeiten und Verletzungsrisiken formulierbar. Aber sie kann gelebt werden.
Michael Buchholz, Psychoanalyse als "weltliche Seelsorge" (Freud): Themenschwerpunkt: Lebenskunst. Journal für Psychologie 11 (2003)

Die Gegenstände kann ich nur nennen. Zeichen vertreten sie. Ich kann nur von ihnen sprechen, sie aussprechen kann ich nicht. Ein Satz kann nur sagen, wie ein Ding ist, nicht was es ist. ... Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig. Und es ist nicht verwunderlich, daß die tiefsten Probleme eigentlich keine Probleme sind. ... Der Zweck der Philosophie ist die logische Klärung der Gedanken. Die Philosophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit. Das Resultat der Philosophie sind nicht „philosophische Sätze“, sondern das Klarwerden von Sätzen. Die Philosophie soll die Gedanken, die sonst, gleichsam, trübe und verschwommen sind, klar machen und scharf abgrenzen.
Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus

Meine Gefühle beziehen sich nicht immer auf einen bestimmten Gegenstand. Ja, zum Beispiel das Verlangen. In manchen Fällen weiß man, wonach man verlangt, in anderen Fällen nicht. Zum Beispiel fühle ich, dass mir etwas fehlt, aber ich weiß nicht recht, was. Oder ich habe Angst. Dabei gibt es gar nichts Bestimmtes, was ich fürchten muss. Welcher Ausdruck bezieht sich nicht auf einen bestimmten Gegenstand? Ah ja, Ordnung, Logik. Ja, zum Beispiel kann mich etwas zum Weinen bringen, aber warum ich weine, das ist nicht in den Tränen drinnen, die mir über die Wangen laufen. Das heißt, man kann alles beschreiben was geschieht, wenn ich etwas tue, ohne deshalb sagen zu können, warum ich es eigentlich tue.
Juliette Jeanson in: Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß. Jean-Luc Godard (1967)

So werden wir, lebendige Einzelmenschen aus Fleisch und Blut, von früh auf eingestellt in das große Riesenreich der imaginären Gespenster: als da sind Gesellschaft, Behörde, Staat und Kirche, Kaste und Gruppe und all die unbarmherzigen und rein imaginären Abstrakta: das Recht, das Gesetz, die Schule, die gute Sache, die Majestät, der Mensch, die Ehre, die Ehe, das Gemeinwohl, die Ordnung, die Wissenschaft, die Familie, das Vaterland usw. Innerhalb dieser eingebildeten Gewalten wird jeder lebendige Einzelmensch, auch der beste, im Namen von Irgendwas zum Spürhund und Teufel wieder jeden anderen lebendigen Einzelmenschen erzogen, so daß das menschliche Einzelleben just als Triumph von lauter Idealen schließlich eine höchst reale Hölle ist.
Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen (München 1919)

Es ist sowohl eine künstlerische als auch eine politische Frage, die Desaster zu verstehen, die den großen Ideen, an die wir glauben, auf dem Fuß folgen. Es gilt einzusehen, dass die einzige Hoffnung in den kleineren Ideen liegt, in den Dingen, die aus der Peripherie kommen, die ihren Platz im Zentrum einnehmen, die sich verschieben und verändern, die nicht für alle Zeit bestehen und die sowohl provisorisch als auch vergänglich sind.
William Kentridge, In Verteidigung der weniger guten Idee. Sigmund Freud Vorlesung 2017

Im Unterschied zum meisten, das zählt, wäre die Kunst ohne die Menschen nicht auf der Welt. ... Und die Kunst, das kann glauben, wer will, ist eine der höchsten Wahrheiten unseres Daseins. Aber es ist eben höchstens die höchste, und wer weiß schon einen Ausweg aus den Aporien? Das hatte sogar die Religion nicht in petto, deren Erbe die Kunst in ihren schönsten Perioden, in den Kunstperioden, angetreten hat.
Eines Tages wird auch die höchste Wahrheit von einer anderen relativiert. Sie bedeutet nichts, sie wird vergessen, sie stirbt, sie verschwindet in der Geschichte. Aber solange sie noch lebt, ist ihr Besitz ein schlechter Ersatz für das Omnipotenzgefühl, mit dem wir, wenn alles halbwegs funktioniert, als Kinder zur Welt gekommen sind und das uns dann der Lebenslauf hat abgewöhnen müssen.
Franz Schuh, FORTUNA - Aus dem Magazin des Glücks

In den Ereignissen der Hochzeit, des Mordes und des Wahnsinns als abschließenden, bereinigenden Vorgängen, als Abläufen der Welt-Einrichtung, verdichten sich szenisch-konkret die Grundmöglichkeiten der menschlichen Sozialisation, jenes jahrelangen Prozesses, in dem das Individuum zu dem wird, was man »Glied der menschlichen Gesellschaft« nennt. Dieser Prozeß wird erlitten. Er kann scheitern, sichtbar oder unsichtbar, unsichtbar vielleicht bei allen äußeren Anzeichen eines erfolgreichen Abschlusses. Die bisher prägnanteste Theorie, was den dramatischen Kern dieses Prozesses betrifft, ist die Lehre von der ödipalen Krise, wie sie Freud entwickelt und erläutert hat. ...
Wer dann in späteren Jahren ein Buch liest, eine Geschichte hört, ein Theaterstück anschaut, spielt dabei immer, ungewollt und unausweichlich, etwas von jenem seinem ersten und ganz eigenen Drama wieder durch. Was er im Erlebnis der Literatur erhofft und fürchtet, was ihn dabei begeistert und entsetzt, weinen und lachen läßt, er kennt es alles schon mit Zwerchfell, Herz und Nieren, weil er selbst einmal Protagonist war auf Tod und Leben. ...
Die drei letzten, nicht mehr weiter reduzierbaren Themen der Literatur sind die szenischen Verkörperungen der drei möglichen Ausgänge aus dem Konflikt der frühkindlichen Sozialisation, welcher mit dem großen Vergessen um das fünfte Lebensjahr herum beendet wird, dem ersten Vorhang nach dem ersten Stück. ...
»Hochzeit« - das ist, im Denken der Literatur, die umfassende Versöhnung mit der allgemeinen Ordnung. ...
»Mord« - das ist, im Denken der Literatur, der fundamentale Konflikt mit der vorhandenen Ordnung. ...
»Wahnsinn« - das ist, im Denken der Literatur, der radikale Austritt aus der allgemeinen Ordnung. ...
Diesen drei Themen der Literatur entspricht jene Dreiheit, die die Kommunikationstheorie für die Grundformen der zwischenmenschlichen Verständigung nachgewiesen hat: Bestätigung, Verwerfung und Entwertung, das Ja, das Nein und die Ignoranz. So wie sie als Grundmöglichkeiten jeden Kommunikationsakt strukturieren, strukturieren Hochzeit, Mord und Wahnsinn als Ur-Inhalte alle Literatur.
Peter von Matt, Liebesverrat

Erinnerungen sind alles, was uns von unseren Lebenserfahrungen bleibt, und die einzige Perspektive, die wir uns zu eigen machen können, wenn wir über unser Leben nachdenken, ist daher die des erinnernden Selbst. ...
Die Verwechslung der Erinnerung mit der tatsächlichen Erfahrung ist eine zwingende kognitive Illusion. ... Das erlebende Selbst hat keine Stimme. Das erinnernde Selbst irrt sich manchmal, aber es ist dasjenige, das Buch führt und bestimmt, was wir aus dem Leben lernen, und es ist auch dasjenige, das Entscheidungen trifft. ...
So seltsam es auch erscheinen mag, ich bin mein erinnerndes Selbst, und das erlebende Selbst, das mein Leben lebt, ist für mich wie ein Fremder.
Daniel Kahnemann, Schnelles Denken, langsames Denken

Die Erinnerung muss als heilloses Durcheinander gesehen werden. Erst wenn man ein Drama daraus macht, herrscht Ordnung.
Monika Helfer, Die Bagage

Immer wissen wir mehr, als wir zu sagen wissen. ... Während wir sprechen, tanzen unsere Gedanken begleitend auf dem Strom der Kommunikation herum, tauchen auf und wieder ab, verlieren sich, erleuchten manches, was gesagt wird, während sie uns von anderem ablenken. Und nie schaffen wir es, sie alle zu sagen – denn unsere Gedanken sind einfach rasant viel schneller als alles, was wir sagen könnten.  ... Friedrich Schiller formuliert 1795 das bekannte Distichon: »Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr«. Diese schöne Formulierung ist zweite Zeile eines Epigramms; dessen erste fragt mit Ausrufezeichen: »Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen!«, und dann gibt Schiller die Antwort, dass die Seele eben nicht sprechen könne. Sich aussagen, etwas von sich mitteilen, so die Entdeckung dieser prägnanten Zeilen, scheitert daran, dass das sprechende Subjekt in uneinholbarer Distanz im Augenblick des Sprechens zu sich situiert ist. Es kann nur von etwas aussagen, das in dem Augenblick schon kein Subjekt, sondern Objekt wird; Objekt einer Aussage über es, das Subjekt. … An das genannte Distichon schließt er eines an, das »An den Dichter« gerichtet ist. Es lautet:

»Laß die Sprache dir seyn, was der Körper den Liebenden; er nur 
Ists, der die Wesen trennt und der die Wesen vereint.«

Schien also jede Seele unaufschließbar in ihr körperlich-individuelles Gehäuse verbannt, so weist Schiller hier doch einen Ausweg zur communio. … Sicher aber ist, dass eine scharfe kontrastive Gegenüberstellung von Sprechen und Körper so nicht aufrechterhalten werden kann und auch nicht sollte. Denn jene Form der Liebe, die auch in der Therapeutik sublim ins Spiel kommen muss, ohne Regeln und Grenzen zu verletzen, artikuliert sich im gesprochenen, heilenden Wort. Teilt sie sich körperlich mit, wären zu respektierende Grenzen schon verletzt. Heilend ist dennoch die Überwindung jener Trennung, die durch die Individualität der Körper gegeben ist; sie kann in der Liebe körperlich überwunden werden. In der Psychotherapie hingegen braucht es das Sprechen. Die Worte Schillers könnten also auch als an uns Therapeuten gerichtet gelesen werden: dass wir die Sprache uns sein lassen, was der Körper den Liebenden ist. Die Wiedervereinigung findet im Medium des Symbolischen statt. 
Michael Buchholz, Wie sich implizites Wissen bei Therapeuten entwickelt

Wenn alle Psychologie seit der des Protagoras den Menschen erhöhte durch den Gedanken, er sei das Maß aller Dinge, so hat sie damit von Anbeginn zugleich ihn zum Objekt gemacht, zum Material der Analyse, und ihn selber, einmal unter die Dinge eingereiht, deren Nichtigkeit überantwortet. Die Verleugnung der objektiven Wahrheit durch den Rekurs aufs Subjekt schließt dessen eigene Negation ein: kein Maß bleibt fürs Maß aller Dinge, es verfällt der Kontingenz und wird zur Unwahrheit. Das aber deutet zurück auf den realen Lebensprozeß der Gesellschaft. Das Prinzip der menschlichen Herrschaft, das zum absoluten sich entfaltete, hat eben damit seine Spitze gegen den Menschen als das absolute Objekt gekehrt, und die Psychologie hat daran mitgewirkt, jene Spitze zu schärfen. Das Ich, ihre leitende Idee und ihr apriorischer Gegenstand, ist unter ihrem Blick stets zugleich schon zum Nicht-Existenten geworden. Indem Psychologie sich darauf stützen konnte, daß das Subjekt in der Tauschgesellschaft keines ist, sondern in der Tat deren Objekt, konnte sie ihr die Waffen liefern, es erst recht zu einem solchen zu machen und unten zu halten. Die Zerlegung des Menschen in seine Fähigkeiten ist eine Projektion der Arbeitsteilung auf deren vorgebliche Subjekte, untrennbar vom Interesse, sie mit höherem Nutzen einsetzen, überhaupt manipulieren zu können. Psychotechnik ist keine bloße Verfallsform der Psychologie, sondern ihrem Prinzip immanent.
Theodor W. Adorno, Minima Moralia - Reflexionen aus dem beschädigten Leben

Es liegt auf der Hand, daß jenes diffuse Phänomen, für das «ADHS» mehr eine Verlegenheitsbezeichnung als eine trennscharfe pathologische Diagnose ist, ohne umfassende kulturtheoretische Perspektive gar nicht angemessen begriffen werden kann. ADHS ist ja nicht einfach eine Krankheit in gesunder Umgebung. Umgekehrt: Nur wo schon eine Aufmerksamkeitsdefizitkultur besteht, gibt es ADHS. Ihr Wahrzeichen ist «konzentrierte Zerstreuung»: durch Milliarden winziger audiovisueller Schocks die menschliche Aufmerksamkeit auf etwas zu konzentrieren, was sie gerade zermürbt. Das ist das Aufmerksamkeitsdefizitgesetz, dessen Dynamik sich anschickt, unsere gesamte Kultur zu durchdringen. Gegen seine Wirkung kann man sich wehren; sie läßt sich verringern, aber - auf absehbare Zeit - nicht abstellen. Denn die konzentrierte Zerstreuung ist ein sich selbst verstärkender Mechanismus. Nur wer mehr Aufsehen erregt als andere, hat in der Flut aufmerksamkeitsheischender Impulse, mit der die Hochtechnologie uns umgibt, eine Chance, wahrgenommen zu werden. Und so darf man gewiß sein, daß das, was gegenwärtig unter ADHS firmiert - etwa jedes sechste Kind ist hierzulande nach vorsichtigen Schätzungen davon betroffen -, nur eine Ouvertüre ist: ein Anfang, eine Einstimmung, Ankündigung, Vorwegnahme zentraler Themen, ohne daß schon genau ersichtlich würde, was kommt - ganz wie in der Musik.
Christoph Türke, Hyperaktiv! Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur

Meiner Meinung nach sind vier existentielle Grundtatsachen in der Psychotherapie besonders relevant: die Unausweichlichkeit des Todes für jeden von uns und für die, die wir lieben; die Freiheit, unser Leben nach unserem Willen zu gestalten; unsere letztendliche Isolation und schließlich das Fehlen eines erkennbaren Lebenssinns.
Irvin D. Yalom, Die Liebe und ihr Henker & andere Geschichten aus der Psychotherapie

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Young visitor meets Mark Rothko

Die Schwierigkeit ist heute nicht mehr, dass wir unsere Meinung nicht frei äußern können, sondern Freiräume der Einsamkeit und des Schweigens zu schaffen, in denen wir etwas zu sagen finden. Repressive Kräfte hindern uns nicht mehr an der Meinungsäußerung. Im Gegenteil, sie zwingen uns sogar dazu. Welche Befreiung ist es, einmal nichts sagen zu müssen und schweigen zu können, denn nur dann haben wir die Möglichkeit, etwas zunehmend Seltenes zu schaffen: Etwas, das es tatsächlich wert ist, gesagt zu werden.
Gilles Deleuze, Mediators, zitiert in: Michael Hardt und Antonio Negri, Demokratie! Wofür wir kämpfen

Foucaults Disziplinargesellschaft aus Spitälern, Irrenhäusern, Gefängnissen, Kasernen und Fabriken ist nicht mehr die Gesellschaft von heute. An ihre Stelle ist längst eine ganz andere Gesellschaft getreten, nämlich eine Gesellschaft aus Fitnessstudios, Bürotürmen, Banken, Flughäfen, Shopping Malls und Genlabors. Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr die Disziplinargesellschaft, sondern eine Leistungsgesellschaft. Auch ihre Bewohner heißen nicht mehr »Gehorsamssubjekt«, sondern Leistungssubjekt. Sie sind Unternehmer ihrer selbst. ... An die Stelle von Verbot, Gebot oder Gesetz treten Projekt, Initiative und Motivation. Die Disziplinargesellschaft ist noch vom Nein beherrscht. Ihre Negativität erzeugt Verrückte und Verbrecher. Die Leistungsgesellschaft bringt dagegen Depressive und Versager hervor.
Byung-Chul Han, Müdigkeitsgesellschaft

Auf der Plattform von Simone de Beauvoirs schöner Formel «Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es» hatten sich alle versammeln können, die für die rechtlich-soziale Gleichstellung der Geschlechter eintraten. Dem feministischen Dekonstruktivismus war das nicht radikal genug. Da war «Frau» ja noch das Gegenstück zu «Mann»; da wurde noch binär gedacht. Hatte sich nicht aber die Binarität als Wurzel allen Übels, namentlich des Patriarchats und des Kapitalismus, geoffenbart?
Wo immer der Feminismus dieser Offenbarung aufsaß, betrieb er nun seine Selbstabwicklung, die Vervielfältigung der Geschlechter und ihre Auflösung in Kategorien des Zugehörigkeitsempfindens. Jede Fraktion der LGBTTI-Community gründet sich auf nichts als Empfindung. Ihre Identität hängt davon ab, daß sie sich angemessen spürt. … Das ist Ontologisierung der Empfindung zur ultima ratio. Ihre soziale Ausdrucksform ist Empfindlichkeitspolitik. Jede Fraktion muß permanent darauf achten, ob ihre Besonderheit in der Öffentlichkeit angemessen repräsentiert ist, ob es genügend Toiletten für sie gibt, ob Worte so gegendert werden, daß auch sie dabei ausdrücklich eingeschlossen sind. Der Geschlechterkampf diffundiert zum Vielfrontenkampf von lauter Diversen, die sich permanent benachteiligt fühlen und aufs empfindlichste ihre Berücksichtigung und Inklusion verlangen, ohne das gesellschaftliche Ganze, in das sie eingeschlossen zu werden wünschen, noch nennenswert zu thematisieren.
Christoph Türke, Natur und Gender. Kritik eines Machbarkeitswahns

Ich paraphrasiere: Menschen haben das Recht und die Freiheit, was sie sind/sein wollen (nicht einmal durch, sondern) als bloßen Willensakt zu definieren. Jede Wahrnehmung, die im Verdacht steht, diesen Akt zu missachten, indem sie entweder die Selbstsetzung bestreitet oder – was damit gleichgesetzt wird – sie als im sozialen Umgang für minder wichtig erachtet, wird als Versuch der Beschädigung der eigenen Identität angesehen. Man sieht, wie diese Vorstellung des Zusammenhangs von Identität und Freiheit in eine paradoxe Situation führt. Wenn die selbstgesetzte Identität als permanent bedrohte (angefeindete, missachtete) angesehen wird, muss die ganze Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung durch die anderen gerichtet sein. Auf diese Weise wird die Vorstellung von selbstgesetzter Identität zum Gegenteil ihrer selbst: Ich bin nur noch das, was die anderen nicht aus mir machen sollen. Das ist die Lebensform der Substanzlosigkeit. Ihre Rollenform findet sie im Habitus des Opfers.
Jan Philipp Reemtsma, Angst als Gefühl, up to date zu sein. PSYCHE 07/2022

Die aufgrund der Epidemie erforderlichen Massnahmen sollten nicht automatisch auf das übliche Paradigma von Überwachung und Kontrolle reduziert werden, das früher von Denkern wie Michel Foucault oder heute von Giorgio Agamben propagiert wird. ...
Doch rechte und linke Konstruktivisten weigern sich, die tatsächliche Realität der Epidemie zu akzeptieren. Das ist Ideologie in ihrer reinsten Form. ... Eine solche Einstellung verfehlt jedoch die paradoxe Situation: Die heutige Form von Solidarität besteht gerade darin, sich nicht die Hand zu geben und sich auch abzusondern, wenn es erforderlich ist.

Slavoj Žižek, Der Mensch wird nicht mehr derselbe gewesen sein: Das ist die Lektion, die das Coronavirus für uns bereithält. NZZ 13. März 2020

Die Epoche, die nun zu Ende gegangen ist, hatte an die Stelle des politischen Ideals das individuelle Glück gesetzt; sie hatte die Idee der Freiheit auf den Umkreis eines individuellen Lebens beschränkt, der mit ihrer höchsten Entfaltung verwechselt wurde. All dies muß sich von nun an ändern, wobei wir uns jedoch daran erinnern sollten, daß die Eroberung des Weltraums nicht dadurch gelang, daß man die Gesetze der Schwerkraft leugnete. Das gilt für die Physik wie für die Politik.
Antoine Garapon, Ein Ausnahmemoment, Lettre International 129

Zunächst einmal glaube ich keine halbe Sekunde an Aussagen wie „Nichts wird je wieder wie vorher sein“. … Das Hauptresultat des Coronavirus dürfte ganz im Gegenteil sein, dass es gewisse bereits angestoßene Veränderungen beschleunigt. … Wir werden nach der Ausgangssperre nicht in einer neuen Welt erwachen; es wird dieselbe sein, nur ein bisschen schlechter.
Michel Houellebecq, Brief an Augustin Trapenard vom 4. Mai 2020, in: Ein bisschen schlechter. Neue Interventionen, Essays

Wir können über die Coronakrise nicht mit Abstand nachdenken, anders als erhofft stehen wir ihr auch heute noch nicht gegenüber, sondern bleiben ihr ausgesetzt. Uns fehlt der feste Standort, von dem aus wir bereits nachträglich ein gültiges Fazit ziehen könnten. Wir wissen nicht, ob wir in dem Augenblick, wo wir uns gedanklich über die Infektion erheben, von ihr schon ergriffen worden sind. Daher müssen alle Versuche, die Pandemie und ihre Effekte zu verstehen, vorläufig und revisionsoffen bleiben. ...
Die Coronakrise ist keine Krise des Individuums, sie erreicht die ganze Gesellschaft, verändert die Basis, auf der sich Analytiker und Patientin begegnen. Die gesundheitlichen und ökonomischen Folgen sind gewiss, aber schwer abschätzbar. Wohin die Pandemie sich entwickelt, bleibt unabsehbar, und die Wissenschaft tastet weiterhin im Dunklen, auch wenn Virologen zu Popstars der Krise geworden sind. Die Bedrohungen tauchen nicht plötzlich auf, um zu verschwinden, nein, sie bleiben, aber sie bleiben auch ungreifbar. Gerade deshalb ist die Coronakrise unheimlich. ...
Wenn wir das therapeutische Sprechen in existenziellen Bedrohungen wahren wollen, so sind wir mit der entscheidenden Frage konfrontiert, wie zu sprechen ist, wie Worte zu finden sind, angesichts des „Abgrunds des Schweigens“ (Merleau-Ponty), der sich auftut in der Krise: Es ist schwer auszuhalten, dass die Zukunft unabsehbar ist, dass es keine symbolischen Eltern gibt, die die Wirklichkeit auslegen, die den Überblick wahren und der begrenzten Angst weitsichtig beruhigend entgegentreten könnten. Es fehlen die Worte, um die Erfahrung auf den Begriff zu bringen und dadurch zu entschärfen. Aber der Abgrund des Schweigens generiert, er konstituiert geradezu das Sprechen, nicht nur hier, aber auch hier – ein Abgrund, der eine produktive, konstruktive, vorwärts gerichtete Seite hat. … Auch wenn die vielfältigen Schockerfahrungen noch nicht ausgelegt, gedeutet und narrativ eingeordnet werden können, so ist nicht die Wortlosigkeit die Gefahr, sondern ihr Übergehen.
Joachim Küchenhoff, Die Arbeit im und am Unheimlichen. Die Coronakrise und die psychoanalytische Kur

Die traurige Wissenschaft, aus der ich meinem Freunde einiges darbiete, bezieht sich auf einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt, seit deren Verwandlung in Methode aber der intellektuellen Nichtachtung, der sententiösen Willkür und am Ende der Vergessenheit verfiel: die Lehre vom richtigen Leben. Was einmal den Philosophen Leben hieß, ist zur Sphäre des Privaten und dann bloß noch des Konsums geworden, die als Anhang des materiellen Produktionsprozesses, ohne Autonomie und ohne eigene Substanz, mitgeschleift wird. Wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren will, muß dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen. Redet man unmittelbar vom Unmittelbaren, so verhält man kaum sich anders als jene Romanschreiber, die ihre Marionetten wie mit billigem Schmuck mit den Imitationen der Leidenschaft von ehedem behängen, und Personen, die nichts mehr sind als Bestandstücke der Maschinerie, handeln lassen, als ob sie überhaupt noch als Subjekte handeln könnten, und als ob von ihrem Handeln etwas abhinge. Der Blick aufs Leben ist übergegangen in die Ideologie, die darüber betrügt, daß es keines mehr gibt.
Theodor W. Adorno, Minima Moralia - Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951)

So wenig wie das, was ein „gutes Leben“ ist, kann auch die Lehre davon vorab definiert werden, weil ein solcher Versuch normativ würde und vorschreiben müsste, wo er doch – wie die gute analytische Deutung auch – nur anregen kann. Wir brauchen keine Norm und keine Standards psychischer Gesundheit.
Michael Buchholz, Psychoanalyse als "weltliche Seelsorge" (Freud): Themenschwerpunkt: Lebenskunst. Journal für Psychologie 11 (2003)

Die sogenannte seelische Störung ist immer mehr als bloße Störung, nämlich Teil eines (unbewussten) seelischen Sinnzusammenhangs, genauer: Ausdruck einer individuellen Problematik und zugleich der individuellen Antwort auf sie. Der Mensch ist keine störungsanfällige, intelligente Maschine.
Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie. In: Krankheitsbilder und ihre Diagnosen. ÖBVP News August 2012

Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.
Rosa Luxemburg, Breslauer Gefängnismanuskripte zur Russischen Revolution, handschriftliche Randnotiz

Wir fordern eine Freiheit, die auf Kosten anderer geht, und sind nicht bereit, um eines anderen willen zurückzustecken, da wir hierin eine Beeinträchtigung unserer persönlichen Rechte und Freiheiten sehen. Uns alle charakterisiert heute ein geradezu unglaublicher Egoismus. Doch nicht etwa hierin liegt die Freiheit. Sie bedeutet vielmehr, daß wir endlich lernen müssen, nichts vom Leben oder unseren Mitmenschen, sondern nur von uns selbst etwas zu fordern.
Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films

In einem alten Witz aus der untergegangenen DDR wird einem Mann Arbeit in Sibirien zugewiesen. Da er weiß, dass jeder Brief durch die Zensur muss, sagt er seinem Freund: »Wir vereinbaren einen Kode: Bekommst du von mir einen Brief in blauer Tinte, so ist er wahr; schreibe ich aber mit roter Tinte, ist er erlogen.« Einen Monat später erreicht der erste Brief den Freund, in blauer Tinte: »Alles hier ist wunderbar: Die Läden sind gefüllt, Essen gibt es im Überfluss, die Wohnungen sind geräumig und gut geheizt, in den Kinos zeigt man Filme aus dem Westen, eine Menge hübscher Mädchen wartet auf eine Affäre - das Einzige, was man nicht kriegen kann, ist rote Tinte.«
Und ist es nicht heute noch genauso? Wir haben alle erdenklichen Freiheiten, die man sich nur wünschen kann – das Einzige, was fehlt, ist »rote Tinte«: Wir »fühlen uns frei«, weil uns allein schon die Sprache fehlt, unsere Unfreiheit auszudrücken. Das Fehlen der roten Tinte bedeutet heute, dass alle zentralen Begriffe, mit denen wir den gegenwärtigen Konflikt bezeichnen – »Krieg gegen den Terror«, »Demokratie und Freiheit«, »Menschenrechte« und so fort – irreführende Begriffe sind, die unsere Wahrnehmung der Situation mystifizieren, statt uns zu erlauben, sie zu durchdenken. Unsere Aufgabe besteht heute darin, den Protestierenden rote Tinte zu geben.
Slavoj Žižek, Treffen sich zwei Hegelianer ...

Der französische Philosoph und Marxist Louis Althusser hat vielleicht als Erster gezeigt, dass man die Phantasie nicht einfach als subjektive Fehlleistung oder Täuschung verstehen kann, nicht einfach als Weigerung, die Dinge in ihrem Sosein anzuerkennen. Für Althusser ist Phantasie vielmehr etwas Objektives. Sie finde sich weniger in unseren Überzeugungen als in unseren sozialen Praktiken. Im Sinne (der marxschen Analyse) des Warenfetischismus ist es deshalb egal, ob wir wissen, dass Geld nur eine Abstraktion sozialer Beziehungen und kein unmittelbarer Ausdruck von Reichtum ist. Entscheidend ist nur, dass wir in unserem Verhalten immer noch so tun, als wäre Letzteres zutreffend. Dies ist die radikale Bedeutung von Marxens Analyse der Warenform: „dass Dinge (Waren) an unserer Stelle glauben“. Es ist auch die Schlussfolgerung, die sich aus Zizeks Einführung des lacanschen Begriffs des gespaltenen Subjekts in Althussers Theorie der Anrufung ziehen lässt. Wir sehen nämlich, dass Ideologie unbewusst funktioniert, was nicht heißt, die Subjekte wüssten nichts von ihr - sie wissen sehr wohl -, die Form ihres eigenen Verhaltens aber können sie nicht kontrollieren. Sie sind nicht etwa deshalb „dezentriert“, weil sie irgendeinen Aspekt ihres Verhaltens falsch wahrnehmen oder falsch einschätzen würden, sondern weil sie von Anfang an nur durch Vermittlung eines anderen (der Anderen, wie er sich nicht nur im Fetisch, sondern auch in sozialen Bräuchen verkörpert) handeln oder glauben können.
Rex Butler, Slavoj Žižek zur Einführung

Merleau-Ponty zufolge können wir die menschliche Wahrnehmung nur dann nachvollziehen, wenn wir uns von der klassischen Psychologie verabschieden, die von einem abgekapselten und starren, von seinem Körper und von der Welt isolierten Ich ausgeht. In Wirklichkeit gelangen wir aus dem Mutterleib durch den Geburtskanal in eine Welt, in die wir gleichfalls völlig eintauchen. Dieses Eingetauchtsein dauert an, solange wir leben – auch dann, wenn wir uns von Zeit zu Zeit aus der Welt zurückziehen, um nachzudenken oder zu träumen. Anders als für Sartre in Das Sein und das Nichts ist für Merleau-Ponty das Bewusstsein kein vom Sein radikal getrenntes «Nichts», ja nicht einmal eine «Lichtung» wie für Heidegger. Merleau-Pontys Metapher für das Bewusstsein ist die «Falte»: eine «Falte, die sich im Sein gebildet hat und auch wieder verschwinden kann». Wie bei einem Stück Stoff, den man einschlägt, um eine kleine Vertiefung oder Höhlung zu schaffen; die Falte bleibt erhalten, bis man den Stoff wieder glattstreicht. Diese Vorstellung des bewussten Ichs als provisorische Höhlung im Stoff der Welt hat etwas Verführerisches, ja Erotisches: Es gibt ein Refugium, einen Ort, an den ich mich zurückziehen kann, aber ich bin zugleich Teil des Gewebes der Welt, und solange ich hier bin, bin ich aus diesem Stoff geformt.
Sarah Bakewell, Das Café der Existenzialisten

Die Verachtung des Unglücks ist in den Gesellschaften verankert, in der Art wie Menschen zusammenleben. Gewiss, es gibt eine Achtung des Unglücks, eine gelegentlich auch voyeuristische Aufmerksamkeit dafür. Aber intuitiv, also ohne Beweise, habe ich das Gefühl, dass die Verachtung eher darin wirkt, eher daran beteiligt ist, wie alles funktioniert. Die Sehnsucht nach Solidarität bleibt poetisch, während die Konkurrenz den Tag strukturiert.
Franz Schuh, FORTUNA - Aus dem Magazin des Glücks

Vermutlich kann man aus der Einsamkeit keinen Vorteil ziehen.
Jean-Paul Sartre, Der Ekel

Auch das Alleinsein des Daseins ist Mitsein in der Welt.
Martin Heidegger, Sein und Zeit

Ich entsinne mich des Falls ... insbesondere deshalb mit unverminderter Deutlichkeit, weil er am Anfang stand einer völligen Umwandlung in meinem Denken, die mich, im Verlauf des ... folgenden Jahrzehnts, zu einer immer weitergehenden Einschränkung und zuletzt zur Aufgabe meiner psychiatrischen Tätigkeit gebracht hat. Seit ... – ich habe unlängst den 15. Jahrestag meiner Emeritierung gefeiert – lebe ich hier heraußen, je nach Witterung entweder im Boots- oder im Bienenhaus und kümmere mich grundsätzlich nicht mehr um das, was vor sich geht in der sogenannten wirklichen Welt. Zweifellos bin ich jetzt in einem gewissen Sinne verrückt, aber wie Sie vielleicht wissen, sind diese Dinge einzig eine Frage der Perspektive.
W.G. Sebald, Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen

Es gibt über ein Irrenhaus weniger zu schreiben, als man vermutet. Es existieren nur wenige Dinge, die aussehen, wie sie sind - das trifft aber auf die Anstalt zu. Die Wächter sind freundlich, jedoch entschieden, die Ärzte misstrauen am meisten sich selbst und lasten ihre Selbstzweifel den Insassen an. (Wer kann sich schon mit Pfleglingen wohl fühlen, es sei denn, jemand genießt seine Überlegenheit?)
Gerhard Roth, Landläufiger Tod

Natürlich: Das Gehen, selbst das Gehen im Herzland, wird eines Tages nicht mehr sein können, oder auch nicht mehr wirken. Doch dann wird die Erzählung da sein und das Gehen wiederholen!
Peter Handke, Die Wiederholung

Von dem, was uns fehlt, genesen wir nie, wir arrangieren uns, erzählen uns andere Wahrheiten. Wir leben mit uns selbst und mit der Sehnsucht nach Leben, wie alte Leute.
Margaret Mazzantini, Das schönste Wort der Welt

Scham ist Schuldgefühl über eigenes Unvermögen.
Christoph Türke, Natur und Gender. Kritik eines Machbarkeitswahns

Bei allen Begierden muß man sich fragen: Was geschieht, wenn mein Begehren befriedigt ist, und was, wenn es nicht befriedigt wird?
Epikur, Aphorismen

Im Gram

Ein Menschenleben füllt nicht hundert Jahre,
Doch immer ist es voll von tausend Jahren Sorge.
Der Mittag kurz, und bitter lang die Nächte!

Warum nicht greifst du nach der Lampe, gehst,
Die kurzen Freuden dir zu suchen, wenn nicht heute?
Was willst du warten, Jahr um Jahr?

Ein Narr, der lieber spart als zu verschwenden!
Die nach ihm kommen, werden sein nur lachen.
Nicht jeder steigt wie jener Heilige der Berge
Auf weißem Kranich auf in die Unsterblichkeit!

Ungenannter Dichter, China, spätere Han-Zeit (25-220)

Gerade weil man Liebe zuletzt nicht anders definieren kann denn als die höchste Form von Aufhebung aller Herrschaft, bleibt sie so fundamental an alles geknüpft, was in ihrem Umkreis Herrschaft ist und heißt. Die Herrschaft des Geschlechts im Patriarchat, der Klasse in der ständischen Gesellschaft, des akkumulierten Geldes im kapitalistischen, des Verwaltungsapparats im sozialistischen Staat und alle ihre vielfachen Interferenzen und Überlagerungen, sie geben im Augenblick der Liebe einen Ort frei, wo alle Macht aufgehoben ist, wo alles schwebt und ruht – wie im Auge des Orkans.
Peter von Matt, Liebesverrat

Unserer Meinung nach ist es zwar analytisch, aber - um Hans Castorps Redewendung zu wiederholen - »im höchsten Grade linkisch« und geradezu lebensunfreundlich, in Dingen der Liebe zwischen Frommem und Leidenschaftlichem »reinlich« zu unterscheiden. Was heißt da reinlich! Was schwankender Sinn und Zweideutigkeit! Wir machen uns unverhohlen lustig darüber. Ist es nicht groß und gut, daß die Sprache nur ein Wort hat für alles, vom Frommsten bis zum Fleischlich-Begierigsten, was man darunter verstehen kann? Das ist vollkommene Eindeutigkeit in der Zweideutigkeit, denn Liebe kann nicht unkörperlich sein in der äußersten Frömmigkeit und nicht unfromm in der äußersten Fleischlichkeit, sie ist immer sie selbst, als verschlagene Lebensfreundlichkeit wie als höchste Passion, sie ist die Sympathie mit dem Organischen, das rührend wollüstige Umfangen des zur Verwesung Bestimmten, - Charitas ist gewiß noch in der bewunderungsvollsten oder wütendsten Leidenschaft.
Thomas Mann, Der Zauberberg

… die Liebe … Daran glaubte er nicht. Mied sogar das Wort. Hielt es für Kitsch. Es gäbe diese drei Dinge, und nur sie, pflegte er zu sagen: Begierde, Wohlgefallen und Geborgenheit. Und alle seien sie vergänglich. Am flüchtigsten sei die Begierde, dann komme das Wohlgefallen, und leider sei es so, daß die Geborgenheit, das Gefühl, in jemanden aufgehoben zu sein, irgendwann auch zerbreche. Die Zumutungen des Lebens, all die Dinge, mit denen wir fertig werden müßten, seien einfach zu zahlreich und zu gewaltig, als daß unsere Gefühle sie unbeschadet überstehen könnten. Deshalb komme es auf Loyalität an. Sie sei kein Gefühl, meinte er, sondern ein Wille, ein Entschluss, eine Parteinahme der Seele. Etwas, das den Zufall von Begegnungen und die Zufälligkeit der Gefühle in eine Notwendigkeit verwandle.
Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon

Bei der Eifersucht kreiert/imaginiert das Subjekt ein Paradies (eine Utopie der vollkommenen jouissance), aus dem es ausgeschlossen ist.
Slavoj Žižek, Auf verlorenem Posten. edition suhrkamp 2009

Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit.
Diana Pflichthofer, Der Rahmen: Zwischen Gesetz und Freiheit. Psyche 1/2011

In Zeiten des romantischen Liebesideals, in der die Liebe zwischen den Liebenden allein - und nicht die schicklichen, zweckhaften oder sonst wie naheliegenden Allianzen zwischen den Familien der Partner - den Bund fürs Leben begründen soll, ist Bindung deshalb eine so riskante Angelegenheit, weil die beiden Partner nicht voneinander wissen können, welche Frustrationstoleranzen die Liebe für den jeweils anderen beinhaltet. Wenn die Sexualüberschätzung aus dem irren Zustand der Verliebtheit nachlässt, müssen sich die Partner notgedrungen auf eine emotionale Idee langer Dauer für ihre Partnerschaft einigen. Dazu dienen für gewöhnlich Erzählungen des Kennenlernens, der Überwindung von Beziehungskrisen, von gemeinsamen Urlaubs- oder Immobilienerwerbsprojekten und vor allem die unendlichen, von Fotosammlungen gestützten Erzählungen aus der kooperativen Kinderaufzucht.
Da der Partner, auch wenn man sich keinen anderen vorstellen kann, immer der Andere bleibt, in dem ein Fremder steckt, dessen trübe Gedanken, geheime Wünsche und bizarre Fantasien einem verborgen bleiben, muss man unentwegt auf der Hut sein. Eine fixe Idee im Kopf des Anderen kann mit einem Mal alles zur Disposition stellen. Die Beziehung der Liebe beruhe so gesehen auf der Angst vor der Freiheit. So wie das Ich hat das Du die Freiheit, aus nichtigem Anlass oder tiefer Enttäuschung, Nein zu sagen und sich dadurch seine Freiheit zu nehmen und den Anderen allein zu lassen. »Wir haben uns voneinander entfremdet«, lautet die ebenso hilflose wie treffende Formel der Trennung.
Heinz Bude, Gesellschaft der Angst. Hamburger Edition 2014

Der unter den Alten, der sagte, er sei den Jahren dankbar, weil sie ihn von der Wollust befreit hätten, war anderer Ansicht als ich; ich werde mich niemals beim Unvermögen bedanken, und wenn es mir noch so gut bekäme. ... Wir nennen die Grämlichkeit unserer Launen und den Überdruß an irdischen Dingen Weisheit. Aber in Wirklichkeit geben wir die Laster nicht auf, wir tauschen sie nur ein, und meiner Meinung nach gegen schlimmere. Außer einem dummen, senilen Hochmut, einer nervtötenden Geschwätzigkeit, diesen unangenehmen Eigenarten, außer dem Aberglauben und einer lächerlichen Sorge um das Geld, für das man keine Verwendung mehr hat, finde ich im Alter mehr Neid, mehr Ungerechtigkeit und mehr Boshaftigkeit.
Michel de Montaigne, Essais

Als der Buddha im Sterben lag, weinte sein vertrauter Jünger Ānanda. Der Sterbende gab ihm, seines Schmerzes gewahr, den einzigen Trost:

Sei deine eigene Insel!
Sei deine eigene Zuflucht!
Suche keine andere Zuflucht
als bei dir selbst!
Sieh die Buddha-Lehre als Insel!
Sieh ihre Wahrheit als Zuflucht!
Suche bei keinem anderen Zuflucht
als bei dir selbst!

Eckart Kroneberg, Buddha, Berlin Wilmersdorf

Die Welt ist nicht so, wie sie aussieht. Es gibt keine Farben, sondern Wellenlängen, es gibt keine Töne, sondern schwingende Luft, es gibt eigentlich auch keine Luft, sondern verkettete Atome im Raum, wobei «Atome» ja auch nur ein Wort ist für Energieverschlingungen ohne Form und festen Ort, und was ist überhaupt Energie? Eine Zahl, die konstant bleibt, in allen Veränderungen, eine abstrakte Summe, die sich erhält, nicht Substanz, sondern Verhältnis, also reine Mathematik. Je genauer man hinsieht, desto leerer wird alles, desto irrealer sogar die Leere. Denn auch der Raum ist bloß eine Funktion, ein Modell unseres Geistes. Und der Geist, der diese Modelle erschafft? Vergiss nicht: Im Gehirn wohnt niemand. Kein unsichtbares Wesen schwebt durch die Nervenwindungen, blickt durch die Augen, horcht von innen an den Ohren und spricht durch deinen Mund. Augen sind keine Fenster. Da sind Nervenimpulse, aber niemand liest sie, zählt sie, übersetzt sie und denkt über sie nach. Such, so lange du willst, niemand ist zu Hause. Die Welt ist in dir, und du bist nicht da. Denn «du», das ist auch von innen gesehen bestenfalls ein Provisorium, notdürftig zusammengeflickt: ein paar Millimeter Blickfeld, das an den Rändern schon ins Nichts rinnt, darin blinde Flecken, ausgefüllt von Gewohnheit und einem Gedächtnis, das wenig bewahrt und das meiste erfindet. Dein sogenanntes Bewusstsein ist ein Flackern, ein Traum ist es, den niemand träumt.
Daniel Kehlmann, F

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Gunter Damisch - Der Träumende (1988)

Wer sich nicht mit Politik befasst, hat die politische Parteinahme, die er sich sparen möchte, bereits vollzogen: er dient der herrschenden Partei.
Max Frisch, Tagebuch 1946 – 1949

Politik, Kinder: bestenfalls ein schlimmes, schmutziges Geschäft. Wir hätten es meiden sollen, ich hätte nie vom Sinn träumen sollen. Ich komme zu dem Schluss, dass das Private, das unbedeutende individuelle Leben der Menschen der ganzen aufgeblähten makrokosmischen Aktivität vorzuziehen ist.
Salman Rushdie, Mitternachtskinder

Die moderne Geschichte hat, denke ich, hinreichend bewiesen, dass jeder Mensch, oder fast jeder, unter gewissen Voraussetzungen das tut, was man ihm sagt; und, verzeiht mir, die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass ihr die Ausnahme seid - so wenig wie ich. Wenn ihr in einem Land und in einer Zeit geboren seid, wo nicht nur niemand kommt, um eure Frau und eure Kinder zu töten, sondern auch niemand, um von euch zu verlangen, dass ihr die Frauen und Kinder anderer tötet, dann danket Gott und ziehet hin in Frieden. Aber bedenkt immer das eine: Ihr habt vielleicht mehr Glück gehabt als ich, doch ihr seid nicht besser. Denn solltet ihr so vermessen sein, euch dafür zu halten, seid ihr bereits in Gefahr. Gern stellen wir dem Staat - ob er totalitär ist oder nicht - den gewöhnlichen Menschen gegenüber, die Laus oder das kleine Licht. Dabei vergessen wir jedoch, dass der Staat aus Menschen besteht, mehr oder weniger gewöhnlichen Menschen, ein jeder mit seinem Leben, seiner Geschichte, jeder mit seiner Verkettung von Zufällen, die dafür gesorgt haben, dass er sich eines Tages auf der richtigen Seite des Gewehrs oder Dokuments wiederfindet, während andere auf der falschen stehen. Dieser Gang der Ereignisse ist in den seltensten Fällen das Ergebnis einer Entscheidung oder gar einer charakterlichen Veranlagung. Und die Opfer sind in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht deshalb gefoltert oder getötet worden, weil sie gut waren, ebenso wenig wie ihre Peiniger sie aus Bosheit gequält haben. Das zu glauben wäre reichlich naiv.
Jonathan Littell, Die Wohlgesinnten

Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. ...
Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen.
Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852)

Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muß also andere unglücklich machen.
Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (1905)

Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.
Theodor W. Adorno, Minima Moralia - Reflexionen aus dem beschädigten Leben

Entgegen dem, was uns seit der Kindheit immer wieder erzählt wird, besteht Intelligenz nicht darin, sich anpassen zu können - oder wenn das eine Intelligenz ist, dann die der Sklaven. Unsere Unfähigkeit zur Anpassung und unsere Müdigkeit sind keine Probleme, außer aus der Sicht dessen, was uns unterwerfen will. … Wir sind nicht deprimiert, wir streiken. …
Die Ordnung der Arbeit war die Ordnung einer Welt. ... Arbeiten bezieht sich heutzutage weniger auf die wirtschaftliche Notwendigkeit, Waren zu produzieren, als auf die politische Notwendigkeit, Produzenten und Konsumenten zu produzieren, um mit allen Mitteln die Ordnung der Arbeit zu retten. Sich selbst zu produzieren ist dabei, zur vorherrschenden Beschäftigung einer Gesellschaft zu werden, in der die Produktion zwecklos geworden ist. …
Nicht die Wirtschaft ist in der Krise, die Wirtschaft
ist die Krise; die Arbeit fehlt nicht, die Arbeit ist zuviel; wohl überlegt deprimiert uns nicht die Krise, sondern das Wachstum.
Der kommende Aufstand | trend.infopartisan 1210 - Zur Rezeption dieser Position siehe auch: kritisch-lesen.de

In allen Epochen, wie immer ihre Regierungsform heißt, sei es Monarchie, Republik oder Demokratie, lauert eine Oligarchie hinter der Fassade.
Ronald Syme, zitiert in: Jürgen Kaube, Die Anfänge von allem

Im neoliberalen Regime existiert eigentlich kein Proletariat, keine Arbeiterklasse, die vom Eigentümer der Produktionsmittel ausgebeutet würde. In der immateriellen Produktion besitzt jeder ohnehin sein Produktionsmittel selbst. Das neoliberale System ist kein Klassensystem im eigentlichen Sinne mehr. Es besteht nicht aus Klassen, die sich zueinander antagonistisch verhielten. Darin besteht gerade die Stabilität dieses Systems.
Die Unterscheidung von Proletariat und Bourgeoisie lässt sich heute nicht mehr aufrechterhalten. Der Proletarier ist wörtlich jemand, der als einzigen Besitz nur seine Kinder hat. Seine Selbstproduktion ist auf die biologische Reproduktion beschränkt. Heute wird dagegen die Illusion verbreitet, jeder sei als ein sich frei entwerfendes Projekt zu einer grenzenlosen Selbstproduktion fähig. Strukturell unmöglich ist heute die »Diktatur des Proletariats«. Heute sind alle von einer Diktatur des Kapitals beherrscht.
Das neoliberale Regime verwandelt die Fremdausbeutung in die Selbstausbeutung, von der alle ›Klassen‹ betroffen sind. Diese klassenlose Selbstausbeutung ist Marx gänzlich fremd. Sie macht gerade die soziale Revolution unmöglich, die auf der Unterscheidung zwischen Ausbeutenden und Ausgebeuteten beruht. Und aufgrund der Vereinzelung des sich selbst ausbeutenden Leistungssubjekts formiert sich kein politisches Wir, das zu einem gemeinsamen Handeln fähig wäre.
Wer in der neoliberalen Leistungsgesellschaft scheitert, macht sich selbst dafür verantwortlich und schämt sich, statt die Gesellschaft oder das System in Frage zu stellen. Darin besteht die besondere Intelligenz des neoliberalen Regimes. Sie lässt keinen Widerstand gegen das System aufkommen. Im Regime der Fremdausbeutung ist es dagegen möglich, dass die Ausgebeuteten sich solidarisieren und sich gemeinsam gegen die Ausbeuter erheben. Auf dieser Logik beruht ja Marx' Idee der »Diktatur des Proletariats«. Sie setzt aber repressive Herrschaftsverhältnisse voraus. Im neoliberalen Regime der Selbstausbeutung richtet man die Aggression vielmehr gegen sich selbst. Diese Autoaggressivität macht den Ausgebeuteten nicht zum Revolutionär, sondern zum Depressiven.
Heute arbeiten wir nicht mehr für unsere eigenen Bedürfnisse, sondern für das Kapital. Das Kapital erzeugt eigene Bedürfnisse, die wir fälschlicherweise als unsere eigenen Bedürfnisse wahrnehmen.
Byung-Chul Han, Psychopolitik - Neoliberalismus und die neuen Machttechniken

Der Grundwiderspruch heute lautet, dass die Rationalisierung der Arbeitsplätze aufgrund immer effizienterer Abläufe und besserer Konstruktionen der Maschinen nicht den Arbeitenden zugute kommt – indem sie wenig bis gar nicht mehr arbeiten müssten, also freie Zeit zurückgewinnen und gleichzeitig die Früchte jener Errungenschaften in Form sozialer Absicherung genießen könnten. Dinge, die schon heute möglich sind, wenn das ideologische Dogma der Vollbeschäftigung endlich ad acta gelegt wird und der immense Reichtum sowie die Produktionsmittel gerecht verteilt werden. Solange beides nicht politisch und gesetzlich geregelt wird, gibt es keinen vernünftigen Grund arbeiten zu gehen.
In einer Gesellschaft, in welcher alle Tätigkeiten danach entlohnt oder eben nicht entlohnt werden, ob sie einen finanziellen Mehrwert erschaffen, und nicht danach, ob sie einen »Mehrwert« für menschliche Bedürfnisse oder Belange des guten Zusammenlebens schaffen, geht es lediglich darum zu funktionieren. Alles wird danach ausgerichtet und durchzieht in der Konsequenz auch die private Sphäre. Erziehung, Familie, Liebesbeziehungen werden dahingehend zugerichtet, dass sie in der Außenwirkung gut dastehen, nach außen hin funktionieren – und sich »lohnen«.
Das Innere, also die Bedürfnisse, geheimen Wünsche, das eigene Glücksempfinden, das libidinöse Verlangen, bleibt dabei nicht nur auf der Strecke – es gerät immer weiter in Vergessenheit und wird gar nicht mehr als Wert oder Triebfeder einer zivilisierten Menschlichkeit gedacht. Es geht nicht mehr um das ständige und widersprüchliche Austarieren der angetroffenen Wirklichkeit mit den inneren Bedürfnissen, um so wenigstens die Möglichkeit eines Kompromisses zwischen eigenen Wünschen und äußeren Notwendigkeiten zu finden, immer unter der Prämisse des möglichst bequemen Lustauslebens – denn wenn es nicht darum geht, wofür dann das alles –, sondern nur noch darum, sich nach den Maßgaben einer angeblich alternativlosen und äußeren Zwängen unterworfenen Welt zu arrangieren. Hocheffizient und flexibel in ihr aufzugehen, ohne einmal »Ich« sagen und wirklich meinen zu dürfen – denn dann würde jenes System angeblich zusammenbrechen und wir alle dabei draufgehen.
Martin Nevoigt, Besinnt euch! in: Haus Bartleby, Sag alles ab! Edition Nautilus Verlag

Die entfremdete Weltanschauung (den Ausländern die Schuld geben) verdrängt den politischen Begriff (gegen die Herrschaft ankämpfen).
Didier Eribon, Rückkehr nach Reims

Gewalt ist kein zu diskutierendes Symbol, sondern eine zu vermeidende Realität.
Stephen Eric Bronner, Todesfälle, Straßenkämpfe, Lettre International 129

A. Bejahst du die Gewalt: Ja oder Nein?
B. Es gibt eine Recht-erhaltende Gewalt, ohne die auch der Rechtsstaat nicht auskommt, und es gibt eine Recht-schaffende Gewalt; die letztere antwortet auf die erstere, aber die erstere ist immer hervorgegangen aus der letzteren.
A. Bejahst du die Pistole im Cockpit?
B. Es steht mir nicht zu, die Pistole im Cockpit zu verurteilen, weil ich ohne sie auskomme. Was ich zum Leben brauche, habe ich ohne Gewalt, das heißt, ich habe es durch die Recht-erhaltende Gewalt. Andere sind in einer anderen Lage; meine Recht-Gläubigkeit ernährt sie nicht, kleidet sie nicht, behaust sie nicht, versetzt sie nicht in den Luxus, auszukommen ohne Gewalt.
A. Willst du also sagen, daß die Anwendung von Gewalt gerechtfertigt ist, wenn es ohne Gewalt nicht geht?
B. Es kommt darauf an, was ohne Gewalt nicht geht . . . Ich befinde mich nicht in der Lage, die eine Anwendung von Gewalt rechtfertigt.
A. Es geht aber nicht um dich.
B. Eben.
A. Du hast gestanden, daß Akte der Gewalt dich entsetzen. Du bist aber noch immer nicht bereit, die Anwendung von Gewalt grundsätzlich zu verurteilen –
B. Es steht mir nicht zu
.
Max Frisch, aus: Verhör III, Tagebuch 1966 – 1971

Aber nichts muss sein, wie es ist.
Daniel Kehlmann, Kommt, Geister. Frankfurter Vorlesungen

Ich bin nicht lebensmüde. ... Ich bin weltmüde.
Sibylle Berg, Viel gut essen: Texte für einen oder viele

Es überfordert den Menschen, im Sinne einer Zukunft zu handeln, die er selbst nicht mehr erleben wird. …
Der einzelne Mensch ist ein Rätsel, einige Milliarden Menschen, organisiert in einem parasitären System, sind eine Katastrophe.
Ilija Trojanow, EisTau

Egal, aus welchem Blickwinkel man die Sache betrachtet. Ein Planet mit zehn Milliarden Menschen wird der reinste Albtraum sein.
Stephen Emmott, Zehn Milliarden

Wir sind augenblicklich Zeugen, wie ein ganzer Planet, der vier Milliarden Jahre für seine Entwicklung brauchte, in einer globalen Wirtschaftsmaschinerie verheizt wird, die Unmengen von Gütern und zugleich Unmengen von Müll produziert, irrsinnigen Reichtum und massenhaftes Elend, permanente Überarbeitung und sinnlosen Leerlauf. Ein Außerirdischer, der uns besuchen würde, könnte dieses System nur für verrückt halten. Und doch entbehrt es nicht einer gewissen Rationalität. Der harte Kern dieser Rationalität besteht in der unendlichen Vermehrung von Zahlenkolonnen auf den Konten einer relativ überschaubaren Zahl von Menschen. Diese Zahlenkolonnen länger zu machen scheint letztlich das einzig verbliebene Ziel der globalen Megamaschine zu sein. Die Erde wird für eine endlos wachsende Zahl von Nullen verbrannt.
Fabian Scheidler, Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation

Eine Aufspaltung der Menschheit in biologische Kasten wird die Grundpfeiler der liberalen Ideologie zerstören. Mit sozioökonomischen Gräben kann der Liberalismus durchaus leben. Da er die Freiheit über die Gleichheit stellt, sind für ihn solche Gräben sogar selbstverständlich. ... Die liberale Lösung sozialer Ungleichheit besteht darin, den unterschiedlichen menschlichen Erfahrungen gleichen Wert zuzuschreiben und nicht jedem die gleichen Erfahrungen zu verschaffen.
Yuval Noah Harari, Homo Deus

Es geht um die Entwicklung zur Transhumanz
Wenn man Evolution auf das wirklich Wesentliche herunterbricht, dann ist es ein informationsbasierter, emergenter Vorgang, der langfristig zur Selbsterkenntnis des Universums führt. Dabei ist das Trägermedium unwichtig. Im Moment erleben wir gerade die Ablösung der Information von der biologischen Trägersubstanz. Der nächste Schritt wird ein Verschmelzen der elektronisch/quantentechnisch repräsentierten Information mit der biologisch/chemisch vorliegenden Information sein. Darum wird es ein Zurück zu rein biologischen Informationsbehältnissen nicht geben.
Die bequemen Zeiten sind vorbei. Wir werden uns an immer stärkeres Verschmelzen von Mensch, Maschine und Information gewöhnen müssen.
Der Standard, Posting It'tksirkrk, 19.4.2013

Alles ist unregelmäßige und ständige Bewegung, ohne Führung und ohne Ziel.
Michel de Montaigne, Essais

Unserem wissenschaftlichen Verständnis zufolge ist das Universum ein blinder und zielloser Prozess voller Lärm und Wildheit, aber ohne Bedeutung. Auf praktischer Ebene besteht das moderne Leben aus einem ständigen Streben nach Macht in einem Universum ohne Sinn.
Yuval Noah Harari, Homo Deus

Die Erkenntnis des Todes scheint das folgenschwerste Ereignis der menschlichen Geschichte zu sein. Sie wurde zu seiner Anerkennung. Das absichtliche Töten untereinander ist erst möglich, wenn man weiß, daß ein Toter bis zu einem gewissen Grade tot ist.
Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod

Wir tanzen alle mit wunderlichen Gebärden den Todesweg hinab.
Jan Phillip Reemtsma, Muss man Religiosität respektieren?

Morgen, und morgen, und dann wieder morgen,
Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag,
Zur letzten Silb' auf unserm Lebensblatt;
Und alle unsre Gestern führten Narr'n
Den Pfad des stäub'gen Tods. – Aus! kleines Licht! –
Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild;
Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht
Sein Stündchen auf der Bühn', und dann nicht mehr
Vernommen wird: ein Märchen ist's, erzählt
Von einem Dummkopf, voller Klang und Wut,
Das nichts bedeutet. –


William Shakespeare, Macbeth

Raum ist ein Schwärmen in den Augen; Zeit
Ein Summen in den Ohren. Dieser Bienenstock
Hält mich gefangen. Dennoch, hätten vor dem Leben wir
Die Fähigkeit besessen, es uns vorzustelln,
Als welch ein irrer, unsagbar befremdlicher
Und wunderbarer Unsinn wär’ es uns erschienen!

Vladimir Nabokov, Fahles Feuer (1963)

Durch so viel Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?

Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
– ob Sinn, ob Sucht, ob Sage –
dein fernbestimmtes: Du mußt.

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.


Gottfried Benn, »Nur zwei Dinge« (1953)

Ich gestehe es: Ich
Habe keine Hoffnung.
Die Blinden reden von einem Ausweg. Ich
Sehe.
Wenn die Irrtümer verbraucht sind
Sitzt als letzter Gesellschafter
Uns das Nichts gegenüber.


Bertolt Brecht, »Den Nachgeborenen« (1920)

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Hiroshi Sugimoto, Seascapes - Baltic Sea Near Ruegen, 1996

Im Netz gefunden:

Perlentaucher - Das Kulturmagazin
NachDenkSeiten - Die kritische Webseite
Berliner Institut für kritische Theorie (InkriT)
Die Armutskonferenz - Netzwerk gegen Armut und soziale Ausgrenzung
verteilung.at - Das Informationsportal für Verteilungsfragen in Österreich
Attac - "Vereinigung zur Besteuerung von Finanztransaktionen zugunsten der BürgerInnen"
Fabian Scheidler: „Das Ende der Megamaschine - Geschichte einer scheiternden Zivilisation

p.s.:
Der Trick ist, dass du es mit dir selbst ausmachen musst. Das ist das Schwierigste. Erwarte von niemandem Hilfe. Und lass dir nicht etwa einfallen, eine Therapie zu machen. Dort lernt man nur, mit sich einverstanden zu sein. Man lernt gute Entschuldigungen.
Daniel Kehlmann, F